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Unterdrückte Abstoßung
Neues Immunsuppressivum schont die Nieren

Der Wirkstoff Fingolimod galt einst als Hoffnungsträger für die Transplantationsmedizin, doch das Immunsuppressivum hielt nicht, was es versprach. Dennoch ist die Substanz gefragter denn je: als Mittel gegen Multiple Sklerose.

Von Claudia Doyle | 14.08.2018
    Männliches Anatomiemodell eines Läufers mit Gehirn, Herz, Niere und Blase
    Hoffnung für MS-Kranke: der Wirkstoff Fingolimod und die Wirkung des Immunsuppressivums auf die Organe (imago stock&people / Peter Crowther)
    Der Wirkstoff Fingolimod hatte Ende der 1990 Jahre große Hoffnungen bei Transplantationsmedizinern geweckt. In Tierversuchen hatte sich gezeigt, dass der Wirkstoff das Immunsystem dämpft. Er könnte also dafür geeignet sein, zu verhindern, dass transplantierte Organe abgestoßen werden. Die Pharmafirma Novartis bereitete aufwändige klinische Studien vor. Lothar Färber, Medizinischer Direktor bei Novartis Pharma Deutschland, erklärt, was ein solches Medikament können muss.
    "Die Kunst dabei ist, dass man dieses Immunsystem nur so weit unterdrückt, dass eben keine solche Abstoßungsreaktion stattfindet, aber die sonstigen Reaktionen des Immunsystems in der Abwehr von Keimen, Viren, Bakterien, Parasiten etcetera und auch in der Bekämpfung von Tumorzellen erhalten bleibt."
    Medikamente verursachen massive Nierenschäden
    Zwar gibt es bereits Medikamente, mit denen sich genau diese Balance erreichen lässt. Allerdings haben sie alle einen gewaltigen Nachteil.
    "Diese Arzneimittel, die man bisher braucht, um diese Art der Immunsuppression zu erhalten, die schädigen massiv die Niere. Und das ist nicht nur ein bisschen was, das ist eine nachvollziehbare Nierenschädigung, die dann dazu führt, dass im Mittel nach 15 Jahren die Nieren nicht mehr funktionieren."
    Fingolimod ist tatsächlich viel Nierenschonender. Allerdings unterdrückte es das Immunsystem nicht stark genug. Dadurch stieg die Anzahl der abgestoßenen Organe. Nach sieben Jahren Forschung musste Novartis einsehen, dass Fingolimod die hohen Erwartungen nicht erfüllen kann.
    Das hat leider nicht funktioniert, das hat man nach etlichen Studien erkannt und damit ist eine große Hoffnung in der Organtransplantation einfach geplatzt.
    Doch Fingolimod wurde nicht in den Eisschrank der gescheiterten Innovationen verbannt. Stattdessen testeten die Wissenschaftler bald ein ganz anderes Einsatzgebiet: die Multiple Sklerose. Man hatte inzwischen herausgefunden, dass auch bei Multipler Sklerose das Immunsystem eine wichtige Rolle spielt. Überaktive Immunzellen wandern ins Gehirn ein und zerfressen die Markscheide, die sich schützend um die Nervenfasern legt. Dadurch kommt es zu Kurzschlüssen bei der Signalübertragung zwischen Nervenzellen. Die Patienten leiden unter Symptomen wie Sehstörungen oder Lähmungen. Könnte Fingolimod das Immunsystem an dieser zerstörerischen Arbeit im Gehirn hindern? Es kann! Tjalf Ziemssen ist Professor für klinische Neurowissenschaften am Uniklinkum Dresden. Er erklärt, wie Fingolimod auf das Immunsystem wirkt.
    Hauptquartier der Immunzellen in Milz, Thymus, Knochenmark, Lymphknoten
    "Das Immunsystem funktioniert ja so ähnlich wie die Polizei. Auch die Polizei kontrolliert ja überall in der Stadt, dass kein Verbrechen geschieht. Und genauso ist es mit dem Immunsystem: Das schützt uns ja vor Bakterien, vor Krebszellen. Und das muss natürlich genau wie die Polizei auch auf Streife gehen."
    Um im Bild zu bleiben: Das Hauptquartier der Immunzellen befindet sich in der Milz, dem Thymus, dem Knochenmarkt und den Lymphknoten. Dort ruhen sich etwa 98 Prozent der Immunzellen von ihrem letzten Streifendienst aus, nur zwei Prozent zirkulieren durch den Körper. Fingolimod schafft es, diesen Anteil noch weiter zu reduzieren. Und das ganz ohne die Immunzellen zu schädigen.
    "Und das ist so, im Immunsystem, wie wahrscheinlich auch bei der Polizei, dass natürlich die Immunzellen am liebsten mit ihren Kollegen im Lymphknoten und in der Milz zusammenbleiben und höchst ungern auf Streife gehen. Deshalb hat unser Körper an den Ausgang des Lymphknotens einen Lockstoff gepackt, das sogenannte S1P - Sphingosin-Monophosphat. Und das ist ein Lockstoff, der praktisch dafür sorgt, dass immer diese zwei Prozent der Immunzellen aus dem Lymphknoten herauskommen."
    Das Fingolimod zerstört diese Antenne auf den Immunzellen. Sie reagieren dann nicht mehr auf den Lockstoff und verbleiben vermehrt in den Lymphknoten.
    "Und die Zellen, die natürlich nicht auf Streife gehen können, die können auch keinen Unsinn im Gehirn machen."
    Kein Fortschreiten der Multiple Sklerose
    Fingolimod schafft es dadurch, das Fortschreiten der Multiplen Sklerose aufzuhalten. Bei etwa 30 Prozent der Patienten bessert sich sogar der Behinderungsstatus. In Europa ist Fingolimod inzwischen als Zweitlinientherapie für Patienten mit schubförmig-remittierender MS zugelassen. In anderen Ländern wie den USA oder der Schweiz ist Fingolimod sogar Erstlinientherapeutikum. Neueste Studien zeigen, dass besonders Kinder von dem Wirkstoff profitieren, sagt Lothar Färber von Novartis.
    "Wir haben das untersucht und haben festgestellt, dass die sogenannte Schubrate, also die Häufigkeit, mit der massive entzündliche Reaktionen und Schädigungen am Gehirn auftreten, deutlich zurückgeht, um mehr als 80 Prozent. Bei Erwachsenen liegt es bei etwa 50 Prozent. Das heißt, diese Kinder sprechen stärker auf das Fingolimod an als ältere Patienten."
    Zulassung als Medikament für Kinder steht noch aus
    Eine Zulassung als Arznei für an Multipler Sklerose erkrankte Kinder steht noch aus. Novartis hofft darauf, sie im nächsten Jahr zu erhalten. Ist Fingolimod damit auf dem Höhepunkt seiner Karriere angekommen? Vermutlich nicht. Unter anderem wird derzeit getestet, ob der Wirkstoff oder eine modifizierte Version davon dazu beitragen könnte, die zerstörten Markscheiden um die Neuronen zu regenerieren.
    "Ja, es besteht die Hoffnung, dass das funktionieren könnte. Und dass das auch natürlich eine Riesenchance ist für die Erkrankten. Allerdings denke ich nicht, dass wir vor Ablauf von 15 bis 20 Jahren damit rechnen dürfen, dass wir hier ein Arzneimittel haben, dass diesen Effekt hat und zugelassen ist. Aber die Hoffnungen sind da und es sieht gar nicht so schlecht aus. Ich denke, die Karriere von Fingolimod ist noch nicht zu Ende."