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Unterhaltungen über den Sozialismus nach seinem Verschwinden

"Wo bleibt das Positive?" Positives ist so leicht nicht zu formulieren, zu Zeiten Erich Kästners nicht, der sich in spürbar selbstironischer Form nach großen programmatischen Entwürfen sehnte. Und noch weniger wohl heute, in Zeiten globaler Umbrüche, die seltsam anonym und gesichtslos heraufziehen, sich in ihrer umfassenden Verflechtung durch die politischen Masterpläne vergangener Zeiten längst nicht mehr steuern lassen. Wo also bleibt heute das Positive? Der emeritierte Berliner Philosoph Wolfgang Fritz Haug war aufrichtig genug, sich Kästners berühmt gewordene Frage schon im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Band "Unterhaltungen über den Sozialismus nach seinem Verschwinden" zu stellen - und damit anzudeuten, was an deren Ende gesicherte Erkenntnis ist: Das Positive bleibt an unbekanntem Ort. Ihre großen Zukunftsformeln hat die politische Linke erst noch zu schmieden. Mag sein, dass der Vorstand der PDS, der vierzehn linke Intellektuelle zum Zweck der Programmschärfung zu den drei zwischen dem Sommer 2000 und dem Frühjahr 2002 geführten "Unterhaltungen" eingeladen hatte, sich etwas konkretere Ergebnisse gewünscht hätte. Doch nüchtern formuliert Wolfgang Haug in seinem Vorwort: "Versprechungen, die durch keine noch so revolutionäre Realpolitik eingelöst werden könnten, haben kein Recht."

Kersten Knipp | 29.07.2002
    Zwar dürfe alles reformistische Bemühen seinen utopischen Horizont nicht aus dem Blick verlieren, da es sonst zu perspektivloser Anpassung verkomme. Doch werde sich linke Politik vornehmlich auf reformistische Arbeit zu beschränken haben:

    Nicht Abschaffung des Kapitalismus steht in absehbarer Zeit auf der Tagesordnung, sondern der Kampf um die soziale und demokratische Regulierung des Kapitalismus und um die Verteidigung und Ausdehnung kapitalismusfreier Bereiche. (...) Es kann sich herausstellen, dass die soziale und demokratische Regulierung des Kapitalismus angesichts der Kräfteverhältnisse fast so utopisch ist wie seine Abschaffung.

    Als wollten sie diese Schwierigkeit auch formal demonstrieren, haben sich die Herausgeber der "Unterhaltungen" damit begnügt, die Beiträge der Gesprächspartner protokollarisch festzuhalten und offenbar ohne größere redaktionelle Nachbereitung zu veröffentlichen - mit durchaus zwiespältigem Ergebnis. Entstanden ist einerseits ein Text, der vor allem in der ersten Hälfte allzu sehr auf der Stelle tritt und insbesondere in den allzu theoriegeleiteten "Fragen der Methodik" eine entschlossene Kürzung gut vertragen hätte. Andererseits gibt gerade die Gesprächsform einen nachdrücklichen Eindruck von der Komplexität des Gegenstands, da die Diskutanten sich mit ihren Einwürfen und Entgegnungen gegenseitig zur Präzisierung zwingen und dem Gegenstand den Anschein der Eindeutigkeit nehmen, den die Feder eines einzelnen Autors notwendig suggeriert. So geraten die "Unterhaltungen" vor allem zu einer Meditation über die Möglichkeiten linker Politik im Zeichen eines triumphierenden Neoliberalismus.

    Dessen Erfolg ist den Diskutanten nicht nur aufgrund seiner gewaltigen Dimensionen unheimlich - vor allem beunruhigt sie der Umstand, dass er sich als zukunftsweisende Ideologie offenbar auch in den Köpfen jener festsetzt, die ihre Existenzgrundlage eigentlich davon bedroht sehen müssten: der Gewerkschaft der Eisenbahner etwa, die, wie der Historiker Wolfgang Küttler berichtet, das Ziel des Vorstands der Deutschen Bahn unterstützen, die Börsenfähigkeit des Unternehmens zu erhöhen - und so zuletzt auch den eigenen Arbeitsplatz in Frage stellen. So ist es in der Tat nicht auszuschließen, dass, wie die Soziologin Frigga Haug beobachtet, Angst, Unsicherheit, Misstrauen, Konkurrenz um sich greifen, ebenso eine "Auffassung vom Individuum als isolierter Person in einer Welt, in der ihr der Platz streitig gemacht wird".

    Es ist allerdings sehr die Frage, und hier hätte man sich denn doch auch Diskutanten aus dem "rechten" oder neoliberalen Lager in der Runde gewünscht, ob Deregulierung allein für diese Probleme verantwortlich ist. Denn ist es nicht denkbar, dass ein Teil der Arbeitslosigkeit gerade auf allzu starre Beschäftigungsverhältnisse zurückgeht? Und ist die Tendenz zur Deregulierung nicht doch auf einen sehr exklusiven Teil der Wirtschaft, nämlich die internationalen Konzerne, beschränkt? Sie sind in der Tat in der Lage, den Staat in puncto Arbeitsmarktpolitik unter Druck zu setzen. Aber wie steht es mit den mittelständischen Betrieben? Sie würden einstellen, hätten sie, brutal gesagt, die Möglichkeit, Arbeitnehmer in konjunkturschwachen Zeiten auch wieder los zu werden. Die 18.000 Unternehmenspleiten dieses Jahres zeigen doch, wie sehr so mache Unternehmer selbst mit dem Rücken an der Wand stehen.

    Soziale Ausgrenzung, darin sind sich die Diskutanten einig, ist in der Mitte der Gesellschaft angelegt und betrifft längst auch Angehörige des einst so unbeschwerten Mittelstands. Eben darum erfreuen sich Nichtregierungsorganisationen wie etwa Attac regen Zulaufs, werden die Stimmen gegen eine blinde, absolute Deregulierung immer lauter. Zudem könnten, darauf weisen die Gesprächsteilnehmer nachdrücklich hin, auch die gewaltigen Migrationsbewegungen der kommenden Jahre und Jahrzehnte im Verein mit den entsprechenden demographischen Veränderungen einer verantwortungsbewussteren, um nicht zu sagen: solidarischeren Politik zum Durchbruch verhelfen. Die Kosten der Deregulierung werden lokal wie global immer deutlicher spürbar. "Die große Ernüchterung, aus der sozialistische Erneuerung sich heute einzig erheben kann" meint darum Wolfgang Fritz Haug, "ist eine historische Chance."

    Das Attribut "sozialistisch" freilich ist seinerseits historisch arg belastet. Den Teilnehmern der Gesprächsrunde mag man darum vorwerfen, zu sehr an den Begriffen zu hängen, ein soziales Anliegen fast zwanghaft mit einem ganz bestimmten Vokabular zusammenzuführen. Andererseits gibt es eben, wie der Philosoph Christoph Türcke sagt, keine "unkompromittierten Begriffe". So mag die Etikette "Sozialismus" den Diskutanten vor allem den utopischen Horizont ihres Anliegens in Erinnerung rufen, nach dem Motto: Fordere das Unmögliche, um das Mögliche zu erreichen. Eben in diesem Sinne möchte man dem Sozialismus eine Renaissance wünschen: als im Wortsinn utopisches, also ortloses Ideal, das anmahnt, die Missstände der Wirklichkeit nicht für selbstverständlich und unabänderlich zu halten, sondern an ihrer Überwindung zu arbeiten.