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Unterirdische Liebe

Die Metro erzeugt unfreiwillige Nähe, manchmal bringt sie aber auch zwei Menschen einander näher. Cécile Wajsbrots Roman "Im Schatten der Tage" erzählt die Geschichte von Jason und Léna, die schon lange dieselbe Strecke fahren. Irgendwann traut er sich endlich, die Mitfahrerin anzusprechen.

Von Martin Ebel | 15.03.2005
    Die Pariser Metro ist eine gigantische Menschen-Umwälzpumpe: Jeden Morgen pumpt sie Millionen aus dem Umland zur Arbeit in die Stadt und innerhalb der Stadt von einem Ende zum anderen, jeden Abend dann das gleiche in die andere Richtung. Die Enge und der Lärm, die erzwungene Nähe zum Sitz- oder Stehplatznachbarn, der monotone Wechsel von Tunnelschwärze und mäßig erleuchteten Stationen, die Wellen schlechter Luft und die Hetze treppab und treppauf: Das bestimmt das Leben der Einwohner von Frankreichs Hauptstadt. Der geläufige Spruch "boulot, metro, dodo" - auf deutsch etwa: Schaffen, Metrofahren, Pennen - bringt es auf den Punkt.

    Die Metro erzeugt unfreiwillige Nähe, manchmal bringt sie aber auch zwei Menschen einander näher, die dies wollen. Davon erzählt Cécile Wajsbrots Roman "Im Schatten der Tage" ( im französischen Original trägt er den präziseren Titel "Nation par Barbès", dem man niemandem, der schon einmal in Paris U-Bahn gefahren ist, erklären muss). Jason und Léna fahren schon lange dieselbe Strecke, bis er sich endlich traut, sie anzusprechen. Von da an warten sie aufeinander, reden miteinander, verlieben sich ineinander, auch oberirdisch.

    Das geht sehr langsam, nicht mit Metro-Geschwindigkeit, sondern mit unendlich vielem Zögern, Stocken und Stottern des Liebesmotors. Findet jedenfalls Jason, der 22-jährige Anglistikstudent, lebensfroh, gutwillig und ein wenig oberflächlich. Noch nie hat er so lange gebraucht bei einem Mädchen. Léna, die Sekretärin, ist schüchtern, wortkarg, geradezu unzugänglich. Das Leben, das sie außerhalb von "boulot" und "metro" führt, gibt sie nur in kleinen Dosen preis: Sie muss ihre querschnittsgelähmte Mutter versorgen, eine unentwegt ihr Schicksal beklagende Frau, deren Lähmung sich, gleichsam ins Psychische gewendet, auf Léna übertragen hat. Sie glaubt nicht daran, dass ihr Leben eine neue Wendung erfahren könnte, und tut alles, um diese Wendung wenigstens zu verzögern.

    Dann tritt eine dritte Figur hinzu, die die Autorin schon eine ganze Weile, immer in den geradzahligen Kapiteln, parallel mitgeführt hat. Es ist die Bulgarin Aniela, die der Trost- und Aussichtslosigkeit ihres Landes entkommen will. Als Begleiterin einer Reisetruppe gelangt sie nach Paris und bleibt dort; illegal, ohne Geld, Aufenthaltsgenehmigung und Arbeit, und ihre Träume vom gelobten Land gehen an der harten Wirklichkeit zu Schaden.
    Sie bittet den zufällig in der Metro neben ihr stehenden Jason um Hilfe, und der bringt sie in einem leer stehenden Zimmer unter, Léna gibt ihr etwas Geld. Doch am Schluss ist Aniela tot, und Léna und Jason werden sich nicht mehr sehen: Die möglichen Erfolg- und Aufstiegsgeschichte hat ein brutales Ende gefunden, und aus der Liebesgeschichte wird auch nichts.

    Nur die Metro fährt wie immer, saugt ihre Passagiere ein und spuckt sie wieder aus. Nähe haben alle drei Figuren gesucht, wirkliche Nähe, um die Leere ihres Lebens zu füllen, Ängste zu verscheuchen, die eigenen Schwächen zu kompensieren. Der Versuch aber, diese Nähe zu verwirklichen, macht erst deutlich, was sie trennt, offenbart nur die Unvereinbarkeit der Welten, in denen sie leben. Im Falle Anielas ist dies mit Händen zu greifen; die rechtlose Ausländerin, die vor jedem Polizisten, jedem Fahrscheinkontrolleur zittern muss, kann sich mit dem Bürgersohn Jason nicht verständigen. Er begreift nicht einmal ihre Motive, Bulgarien zu verlassen, verkennt, welcher Hunger nach Leben sich hinter dem vermeintlichen Materialismus versteckt.

    Cécile Wajsbrots Thema sind also die Parallelwelten, und zwar in einem tieferen Sinne als das die üblichen Leitartikel meinen. In Paralleluniversen bewegen sich auch Jason und Léna. Hier sind ihre inneren Widerstände die Ursache, wo immer sie auch herkommen vielleicht, wie sie selbst vermutet, von einem «aus dem Bewusstsein verdrängten Ereignis» der Familiengeschichte. Lénas Vater war spanischer Immigrant, der Grossvater hat im Bürgerkrieg gekämpft. Die Autorin Cécile Wajsbrot, Jahrgang 54, die solche Lebensläufe erfindet, ohne sie plakativ auszustellen, kennt sich aus mit der Last der Vergangenheit: Ihre jüdischen Eltern kamen aus Polen nach Paris, der Grossvater wurde im KZ ermordet.

    Parallelwelten sind die Kehrseite der Globalisierung: Cécile Wajsbrot gibt solchen Begriffen Gesichter und Namen: Hier heißen sie Léna und Aniela, und auch Jason, der über Goodwill, aber nicht über Einfühlungsvermögen verfügt literarisch die schwächste der drei Figuren , scheitert bei seinem Versuch, die unsichtbaren Grenzen zu überschreiten. Scheitert auch an sich selbst.

    Einfühlungsgabe ist dagegen gerade Léna gegeben; aber mehr als eine Gabe ist es ein Zwang, ein unwillkürlicher, bedrohlicher Zwang zur Identifikation mit den Erniedrigten und Beleidigten dieser Welt. Als sie Aniela tot auf den U-Bahn-Gleisen liegen sieht, ist nichts mehr, wie es war. Ein Stück von ihr ist mit Aniela gestorben. Und so ist eine neue Grenze zwischen ihr und Jason hochgezogen worden, absolut wie der Tod. Das suggeriert die Autorin schon früh und sehr zart mit einer Anspielung auf den antiken Orpheus-Mythos; wie sie überhaupt ein ganzes glitzerndes Netz von Motiven über ihre Geschichte geworfen hat, damit sie nicht so nackt und elend daherkommt, wie sie eigentlich ist.

    Einfühlung ist ebenfalls eine Stärke von Cécile Wajsbrot. Sie äußert sich als literarische Qualität: Die Parallelwelten entstehen wie von selbst, indem die Autorin uns abwechselnd die Augenpaare ihrer Helden leiht. Was wir damit sehen, reicht aus und bedarf nicht mehr vieler erklärender Worte. "Wir sind nicht von derselben Welt", sagt Léna einmal. Das ist fast schon ein zu mächtiger Satz für dieses behutsame Buch.


    Cecile Wajsbrot: "Im Schatten der Tage"
    Liebeskind Verlag