Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Unternehmen im Nationalsozialismus

Die Unternehmensgeschichte fristete in Deutschland lange Zeit ein Schattendasein. Während in den USA schon 1927 an der Harvard-Universität der erste Lehrstuhl für Business History eingerichtet wurde, galt Unternehmensgeschichte hierzulande auch nach dem 2. Weltkrieg bestenfalls als Privatbeschäftigung. Seit den 80er-Jahren allerdings kam es zu einem regelrechten Boom der Unternehmensgeschichte.

Von Kay Müllges | 28.01.2010
    Die Unternehmensgeschichte fristete in Deutschland lange Zeit ein Schattendasein. Während zum Beispiel in den USA schon 1927 an der Harvard-Universität der erste Lehrstuhl für Business History eingerichtet wurde, galt Unternehmensgeschichte hierzulande auch nach dem 2. Weltkrieg bestenfalls als Privatbeschäftigung für Hobby-Historiker.

    Publikationen gab es fast nur in Form sogenannter Festschriften, in denen völlig unkritisch an Meilensteine in der Geschichte des Unternehmens XY erinnert wurde: bestenfalls gut gemeinte, selten gut gemachte PR-Maßnahme, niemals seriöse Geschichtsschreibung. Das änderte sich erst spät und der erste Anstoß kam von außen: 1970 erschien im Kölner Pahl-Rugenstein Verlag das Buch des DDR-Autors Eberhard Czichon über den damaligen Aufsichtsratsvorsitzenden der Deutschen Bank, Hermann Josef Abs. In diesem Buch mit dem Titel "Der Bankier und die Macht" erhob Czichon schwere Vorwürfe gegen den Banker, wegen dessen Verhalten in der Nazi-Zeit und zwar unter Berufung auf Akten der Bank aus den Jahren 1933-45, die sich in der DDR befanden und auf die Czichon mit Unterstützung der SED zugreifen konnte. Den folgenden Prozess konnten Abs und die Deutsche Bank zwar gewinnen, die weitere Verbreitung des Buches wurde in der BRD untersagt. Doch der gescheiterte Propaganda-Coup der SED-Führung gegen einen der führenden Exponenten des rheinischen Kapitalismus bewirkte ein langsames Umdenken. Immer mehr bundesdeutsche Unternehmen widmeten ihren Archiven jetzt neue Aufmerksamkeit, einige Jahre später wurde sogar eine wissenschaftliche Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, die GUG, gegründet, von der sich dann 1989 ein Arbeitskreis Kritische Unternehmensgeschichte, kurz AKKU, absetzte.

    "Der Begriff des Kritischen, so wie wir ihn damals verwendet haben und wie wir ihn auch heute noch verstehen, bedeutet jetzt nicht unbedingt einen dezidiert politischen Anspruch zu haben oder eine bestimmte parteiliche Haltung einzunehmen, sondern der Begriff des Kritischen bedeutet zunächst einmal einen wissenschaftlich unabhängigen Standpunkt gegenüber dem Untersuchungsobjekt einzunehmen und nicht von vorneherein in deren eigene Erklärungslogik und in deren eigene Selbstdeutung hineinzufallen."
    Alfred Reckendrees, einer der Mitbegründer des AKKU und heute Professor an der Kopenhagen Business School hält diese wissenschaftliche Herangehensweise für unverzichtbar, um zuverstehen welche Ziele, Handlungen und Strategien ein Unternehmen in der Vergangenheit verfolgt hat. Und auch für die Unternehmen selbst habe sich das über die Jahre als sinnvoll herausgestellt.

    "Was sich insgesamt sehr positiv ausgewirkt hat, ist die große Debatte um Unternehmen im NS, weil in dieser Diskussion einige Unternehmen sehr schlechte Erfahrungen gemacht haben. Vor allen Dingen als sie damals an die amerikanischen Aktienmärkte gehen wollten und auf einmal von amerikanischen Interessengruppen, jüdischen Organisationen mit ihrer Vergangenheit konfrontiert worden sind. Und da hat sich dann sehr stark gezeigt, das die Unternehmen oft gar nicht wussten, in welcher Weise sie mit Nazis kooperiert haben, in das Regime involviert waren - inwieweit sie selbst mitgestaltet haben oder unter Druck ist eine ganz andere Frage - aber sie wussten es zum Teil einfach nicht."

    Hier rächte sich die gezielte Verdrängungspolitik in der Bundesrepublik der Ära Adenauer. Seit den 80er-Jahren allerdings, verstärkt noch durch die politische Debatte um die Entschädigung von Holocaust-Opfern und ehemaligen Zwangsarbeitern in den 90er-Jahren, kam es zu einem regelrechten Boom der Unternehmensgeschichte. Inzwischen ist die Geschichte fast aller großen deutschen Unternehmen in der NS-Zeit von renommierten unabhängigen Historikern aus dem In- und Ausland bearbeitet worden. Das gilt für die führenden Banken genauso wie etwa die Allianz, Daimler-Benz, Degussa, Hoechst oder VW, um nur einige zu nennen. Doch wie steht es aktuell? Schließlich sind die Einzelstudien jetzt da, der politische Druck ist kaum noch vorhanden, in der Wirtschaftskrise haben Unternehmen andere Prioritäten, als sich mit ihrer Geschichte zu befassen und die Universitäten sind sowieso chronisch klamm. Heißt das, das es mit der zarten Blüte der Unternehmensgeschichte in Deutschland jetzt auch schon wieder vorbei ist? Das muss nicht sein, meint der Jenaer Historiker Norbert Frei:

    "Ich glaube wir müssen einfach insgesamt die Wirtschaftsgeschichte, die jetzt durch die vielen unternehmensgeschichtlichen Einzelstudien bereichert worden ist, noch mal neu darauf befragen, wie wir das Verhältnis von Nationalsozialismus und Wirtschaft neu beschreiben können. Ob es angemessen ist gewissermaßen beides als zwei getrennte Entitäten zu verstehen, die aufeinander Bezug nehmen. Oder ob man nicht wirklich am Ende sagen muss, die Wirtschaft im Nationalsozialismus war die Wirtschaft des Nationalsozialismus."

    Eine solche neue Sichtweise könnte Auftrieb bekommen durch eine Forschungskontroverse die zur Zeit die Wirtschaftshistoriker bewegt. Ausgelöst wurde sie durch Jonas Scherner und seinen unlängst verstorbenen Mitstreiter Christoph Buchhheim aus Mannheim. Die beiden stellen die gängige Forschungsmeinung über das Verhältnis von Unternehmen und Staat im Nationalsozialismus in Frage. Die besagt - verkürzt – das es einen fundamentalen Interessenkonflikt zwischen privater Industrie und Staat im Nationalsozialismus gegeben habe. Die Unternehmen seien demnach auch in der Nazi-Zeit vornehmlich an ihrer langfristigen Produktivität und langfristigen Gewinnmöglichkeiten interessiert gewesen. Die gezielte Autarkie-und Aufrüstungspolitik Hitlers und seiner Getreuen habe diesen langfristigen Interessen entgegengestanden, denn irgendwann müsse ja auch die Kriegskonjunktur der Friedensproduktion weichen. Deshalb sei der NS-Staat mehr und mehr gezwungen gewesen, die Unternehmen durch direkten oder indirekten Zwang dazu zu bringen, so zu handeln, wie er es sich wünschte. Dazu Jonas Scherner:

    "Zum Beispiel hat man behauptet, das während des Krieges die Kontrollmöglichkeiten des Staates luftdicht geworden wären. Das lässt sich klar widerlegen. Viele Unternehmen hatten bei Kriegsende riesige Rohstoffvorräte gehortet mit dem Blick auf die Nachkriegszeit. Und das stand unter strenger Strafe. Hortung von Rohstoffen in einer Mangelwirtschaft, gerade in einer Kriegswirtschaft, wo die Bedürfnisse des Staates ja unersättlich waren. Hätten diese Kontrollmöglichkeiten funktioniert oder die Sanktionsandrohungen, dann könnten wir das nicht beobachten."

    Staatliche Sanktionsandrohungen, so Scherners These, seien in den allermeisten Fällen, wenn sie denn überhaupt ausgesprochen wurden, ein stumpfes Schwert gewesen. Das allein schon deshalb weil es an staatlichen Kontrolleuren gemangelt habe. In der Kriegswirtschaft des 2. Weltkriegs hätten mindestens 12.000 Unternehmen direkt für den Staat produziert, die gar nicht alle hätten kontrolliert werden können. Doch Scherner geht noch einen Schritt weiter: Der NS-Staat, so seine These, habe grundsätzlich das Ziel gehabt, eine freiwillige Kooperation der Unternehmen zu erreichen. Weil die Nazis Privateigentum und Vertragsfreiheit grundsätzlich respektierten, seien sie im Normalfall an einer einvernehmlichen Lösung eines Problems interessiert gewesen.
    "Es lässt sich eindeutig nachweisen, das der Staat auf unternehmerisches Zögern sich an bestimmten Sachen zu beteiligen, oder Verweigerungen, bewusst reagiert hat, entsprechende Anreize zu modellieren. Beispielsweise wurden Unternehmen nach Kriegsbeginn, die ihre Produktion konvertieren wollten von der Friedens- auf Kriegsproduktion, da mussten eben bestimmte Maschinen angeschafft werden, da hatte der Staat über die staatliche Industriebank Kredite zu marktüblichen Konditionen bereitgestellt. Darauf sind die Unternehmen aber kaum angesprungen, weil sie befürchtet haben, sie schaffen sich irgendwelche Spezialmaschinen an, die nach Ende des Krieges eben nicht mehr zu verwenden gewesen wären."

    Statt nun den Unternehmen zu drohen oder sie in irgendeiner Weise zu zwingen, die notwendigen Investitionen in die Kriegsproduktion vorzunehmen, entschied man sich auf Seiten des NS-Staates für eine andere Lösung: In großem Maßstab wurden in solchen Fällen Verträge zwischen Staat und Unternehmen geschlossen, die eine spezielle Risikoklausel enthielten. Wenn die Maschinen nach dem Krieg nicht mehr für Friedensproduktion genutzt werden können, übernimmt der Staat das Risiko. Auch Scherner streitet nicht ab, das es gelegentlich staatlichen Zwang gab.

    "Ich glaube aber, dass Drohungen des Staates oder die Angst von Unternehmen vor Sanktionen besonders dann groß waren, wenn ein Unternehmen Technologiemonopolist war."

    So etwas sei aber die Ausnahme und nicht die Regel im Verhältnis von Staat und Unternehmen gewesen. Große Spielräume hätten sich für die Unternehmen auch dadurch ergeben, das die Machtstrukturen im NS-Staat chronisch verworren gewesen seien. Historiker sprechen in dem Zusammenhang von polykratischer Herrschaft.

    "Es ist allgemein bekannt, dass das Herrschaftssystem des Nationalsozialismus sich durch Polykratie ausgezeichnet hat. Und das bringt natürlich auch eine Erhöhung der Handlungsspielräume der Unternehmen mit sich. Es ist also nicht der monolithische Staat, der den Unternehmen gegenübersteht, sondern zum Beispiel, wenn sie sich die Rüstungsindustrie anschauen, das die verschiedenen Wehrmachtsbranchen ob jetzt Luftwaffe, Heer oder Marine, das Interesse haben, das ein bestimmtes Unternehmen etwas für sie produziert und da hat das Unternehmen natürlich den Spielraum die verschiedenen Wehrmachtsbranchen gegeneinander auszuspielen und für sich diejenige Produktion herauszupicken, die in seine langfristige Produktionsstrategie am Besten hineinpasst. Auch das erhöht Handlungsspielräume."

    War das protzerische Gehabe machtverliebter Nazi-Bonzen wie Hermann Göring also nichts als bloße Rhetorik? So weit mag auch Jonas Scherner nicht gehen. Aber er besteht auf einer weitgehenden Normalität des Verhältnisses von Unternehmen und Staat im Nationalsozialismus. Eine Vorstellung, die Kritikern dieser These den Atem raubt. Der Historiker Peter Hayes beispielsweise von der Northwestern University schreibt in einer Replik:

    "Buchheim und Scherner ignorieren den politischen Kontext in Nazi-Deutschland, der durch konstante und offene Drohungen gegen jede Person oder Körperschaft, die den vom Regime definierten nationalen Interessen nicht dienen wollten, gekennzeichnet war. Man sollte, um nur ein Beispiel zu nennen, nicht vergessen, das der Widerstand der Schwerindustrie gegen die Beschlagnahme ihrer Erzminen 1937 durch Görings offene Drohung gebrochen wurde, das er die Gesetze gegen wirtschaftliche Sabotage auch gegen Unternehmensführer, die sich ihm widersetzten, anwenden würde."

    Außerdem, so Hayes, seien während des Krieges einige einflussreiche Unternehmenschefs auf staatlichen Druck aus ihren Führungspositionen entfernt worden und schließlich würden Scherner und Buchheim den Einfluss staatlicher Restriktionen bei der Zuweisung von Devisen oder Rohstoffen sträflich unterschätzen. In der These von den weitgehend erhalten gebliebenen Handlungsspielräumen sieht der US-Historiker daher einen analytischen Rückschritt. Die neuerlich aufgebrochene Kontroverse um das Verhältnis von Unternehmen und Staat im Nationalsozialismus zeigt auf, das – trotz vielen neuer Erkenntnisse im Detail – eine Grundfrage, die sich schon kurz nach Kriegsende stellte noch nicht endgültig beantwortet ist. Welche Rolle spielten Unternehmen, spielte insbesondere die Großindustrie wirklich bei der Durchsetzung der NS-Politik? In den sogenannten Nürnberger Nachfolgeprozessen stellten die Amerikaner auch wichtige Köpfe der deutschen Industrie vor Gericht.

    "In Nürnberg findet vor einem amerikanischen Gerichtshof der erste Prozess gegen nationalsozialistische Großindustrielle statt. The United States of America against Friedrich Flick."
    Friedrich Flick wurde zur Symbolfigur für die Kumpanei von Industrie und Nazis. Norbert Frei:

    "Das Besondere an ihm ist, dass er halt einer der ganz großen Privatindustriellen gewesen ist im Dritten Reich, wenn nicht der größte. Und in dieser Eigenschaft dann eben auch ganz besonders große Geschäfte machen konnte, insbesondere im Rahmen der Arisierung."

    In engem Zusammenspiel mit Hermann Göring hatte Flick im Laufe der Arisierung den großen böhmischen Braunkohlebesitz der jüdischen Familie Petschek erworben. Eine staatliche Verordnung, die einer Zwangsenteignung der Petscheks gleichkam, war im Hause Flick entworfen worden. Im Prozess aber gab sich der Konzernchef ahnungslos.

    "Wir haben uns für den Ankauf von Ignaz Petschek überhaupt nicht interessiert. Ich bin gefragt worden, ob ich Göring gesagt hätte, das noch andere Interessenten vorhanden seien. Ich habe darauf geantwortet, das ich mich daran nicht entsinnen könne, vermutlich aber nicht."

    Vor dem Nürnberger Tribunal konnte sich der für sein enormes Gedächtnis berühmte Konzernchef im Zweifelsfall nicht mehr erinnern. Tatsächlich war sein Vorgehen in der später so genannten Petschek-Affäre äußerst perfide. Einerseits lieferten Mitarbeiter seines Konzerns dem Regime die juristischen Argumente für eine Enteignung des Petschek-Besitzes, andererseits war Flick sehr darauf bedacht sein aktives Interesse an der Übernahme der böhmischen Braunkohle so weit wie möglich zu verschleiern. Einerseits, um seine Industriellenkollegen an der Ruhr nicht allzu sehr vor den Kopf zu stoßen, andererseits wohl auch mit vorausschauendem Blick auf die Zukunft. Norbert Frei:

    "Das ist in der Tat sein Versuch, sich selbst als derjenige darzustellen, der etwa zur Arisierung genötigt worden ist. Das war ja einer der Hauptvorwürfe im Nürnberger Prozess. Und da fällt dann auf, wenn man sich die Arisierungsmethode Flick genau anschaut, dass er schon in die Verträge seinerzeit entsprechende Formulierungen, wo immer es möglich ist, aufnehmen lässt, das also diese Arisierungen gleichsam im Interesse und auf Wunsch des Staates geschehen, und eben nicht eigentlich das Interesse auf der Seite von Friedrich Flick liegt. Was in der Tat gerade bei den Petschek-Arisierungen der Fall gewesen ist. Also dieser Versuch die Dinge abzuwälzen, vorsichtig schon in eine Richtung zu argumentieren, die auch einen möglichen nächsten politischen Systemwechsel im Auge hat, der ist sehr augenfällig."

    Und ein deutlicher Beleg für die enormen Handlungsspielräume, die zumindest ein großer Industrieller wie Friedrich Flick im politischen System des Nationalsozialismus hatte und für sich und seine Interessen ausnutzen konnte.