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Uran und wilder Osten

Mit dem Uran, das die Gesellschaft "Wismut" ab 1947 im Erzgebirge förderte, gelang es der Sowjetunion, das Atomwaffen-Monopol der USA zu brechen. Deutsche und russische Wissenschaftler haben an der TU Chemnitz die soziale Seite des Arbeitens und Lebens bei der Wismut erforscht.

Von Christian Forberg | 30.06.2011
    Wismut ist ein Metall, das rötlich weiß glänzt, zur Veredlung anderer Metalle verwendet wird und unter anderem im Erzgebirge gefunden wurde. Wismut war eine sprachliche Nebelkerze der Sowjets, als sie nach dem Zweiten Weltkrieg im Erzgebirge Uran zu suchen und zu fördern begannen - zunächst mit ihren eigenen Leuten.

    "Diese Geheimhaltung, diese Geheimnisse waren damals so streng - die Sowjetunion hatte damals noch keine Atombombe."

    Tatjana Timofejewa ist Historikerin an der Moskauer Lomonossow-Universität, die sowohl in den öffentlich gemachten Dokumenten als auch in den Lebensgeschichten sowjetischer Wismut-Angehöriger geforscht hat.

    "Deshalb nahm man sich zuerst nur die Leute, denen sie vertrauten. Das waren keine Deutschen, und es konnten keine Deutschen sein. Stellen Sie sich vor, dass die Deutschen, die noch nicht geprüft waren - die kommen in die Gruben und forschen für die sowjetische Atombombe, die streng geheim ist. Das war unvorstellbar."

    Aber nicht lange, denn ebenso unvorstellbar groß waren die Vorkommen an hochwertigem Uran. Das hatten die Sowjets nie und nimmer erwartet! Also mussten doch die Deutschen ran, und zwar unter härtesten Bedingungen, sagt der Berliner Historiker Rainer Karlsch, dessen Buch "Uran für Moskau" noch immer ein Standardwerk in Sachen Wismut ist:

    "Die Wismut ist bis 1948/49 unter Kriegsrecht-ähnlichen Bedingungen behandelt worden. Das bedeutete: Wer seinen Arbeitsvertrag brach und die Wismut verließ, wurde von der Polizei verfolgt; er galt als Deserteur. Und so wurde er auch hart bestraft, mit mehreren Monaten Gefängnis oder schlimmeren gar."

    Die Verfahren, die oft in Moskau durchgeführt wurden, entsprachen dem sowjetischen Kriegsrecht. 67 mal wurde die Todesstrafe vollstreckt, dokumentierte das Dresdner Hannah-Ahrendt-Institut, vor allem wegen angeblicher Sabotage oder Spionage. In den Akten fanden sich nur die knappen Urteile. 40 Getötete wurden nach 1990 rehabilitiert.
    Die sowjetischen Machthaber betrachteten die Uran-Funde als Zeitfenster, das sich schnell wieder schließen könnte: Wusste man denn, wie lange der Osten Deutschlands im eigenen Herrschaftsbereich liegen würde? Und wo sonst bekam man so schnell so viel Uran für die Atombombe her? Im Mai 1947 wurde die "Wismut" gegründet.

    "Deshalb kamen die Deutschen, die Zwangsarbeiter (im echten Sinn) - von den Arbeitslosenbörsen geschickt. Es war wirklich eine GULAG-Zeit bei der Wismut. Darüber erzählen die sowjetischen Mitarbeiter nicht so gern - das habe ich selbst gefühlt, und die deutschen auch nicht. Diese ersten Jahre waren einerseits ein Versuch, ob es geht auf deutschem Boden."

    Sagt Tatjana Timofejewa. Schließlich - so der mögliche Gedankengang der Sowjets - war das Arbeitssystem der Rechtlosigkeit erprobt, und der erste Wismut-Chef, der Geheimdienstgeneral Malzew, führte zuvor ein solches Lager im berüchtigten nordrussischen Workuta. Warum nicht in Deutschland, im Erzgebirge? Rudolph Boch, an der TU Chemnitz Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Projektleiter, nennt Gründe, warum es nicht zum GULAG Erzgebirge kam:

    "Das hängt alles stark zusammen mit der Situation im geteilten Deutschland: Der relativen Nähe zum Westen, auch dem kritischen Auge westlicher Medien und der dichten Bevölkerung im Erzgebirge - kein Vergleich zu irgendwelchen anderen Uranabbaugebieten in der Welt. Darauf reagierten solche Menschenverächter wie Berija oder Malzew mit einem anderen Konzept der Uranausbeute, so dass dieses Zwangssystem und Ansätze zum Lagersystem Ansätze bleiben."

    Hinzu kam, dass die stupide Zuführung körperlich gänzlich ungeeigneter Männer abertausende Fluchten in die Westzonen und Entlassungen wegen Krankheit nach sich zog. In einigen Schächten lag die Fluktuation bei mehr als 70 Prozent. So wurde ein kontinuierlicher Uranabbau eher behindert als gefördert.

    Der Abbruch des GULAG-Versuchs hatte auch etwas mit der Verantwortung und dem Mut deutscher Bergleute und Gewerkschafter zu tun. Sie übten offen Kritik an gravierenden Mängeln bei Arbeitsbedingungen und Unterbringung, Verpflegung und Gesundheitsvorsorge, sagt die Berliner Historikerin Juliane Schütterle. Ihre Dissertation zur Wismut erschien unter dem Titel "Kumpel, Kader und Genossen":

    "Die Gewerkschaft beziehungsweise die Betriebsräte - das muss man unterscheiden: Die Betriebsräte, die es zu dieser Zeit noch gab - sie wurden 1947 abgeschafft -, haben einen Beschwerdebrief an die Einheitsgewerkschaft FDGB geschickt. Die hat sich tatsächlich eingesetzt und hat einen Brief nach Moskau geschickt, und letztlich hat die SMAD, die Sowjetische Militäradministration in Deutschland, die Verbesserungen auf den Weg gebracht, denn man muss einfach so sagen: Ohne die Befehle von ganz oben hätte sich nichts getan."

    Die ersten Sofortmaßnahmen noch im Jahre 1947 nehmen sich aus heutiger Sicht recht eigenwillig aus. Anlässlich des 50. Jahrestages der Oktoberrevolution wurden folgende Prämien verteilt:

    "Es gab 15 Motorräder, 200 Fahrräder, 250 Armbanduhren, 100 Jagdflinten, 100 Radios und fünf Tischservice."

    Immerhin ein Anfang. Rainer Karlsch betont, dass die Befehle nicht auf einen Schlag, sondern erst nach und nach Wirkung zeigten:

    "Sie haben bessere Verpflegung bekommen, höhere Löhne bekommen, Gefahrenzulagen bekommen, mehr Urlaub als andere Beschäftigte bekommen und-und-und. Trotzdem war es gar nicht möglich, die materiellen Bedingungen im kriegszerstörten Deutschland so rasch zu verbessern, wie es an und für sich für körperlich sehr hart arbeitende Menschen nötig gewesen wäre. Also es hat Jahre gedauert, bis dieses neue System gegriffen hat und dazu führte, dass der Bergmann nicht nur besser ernährt wurde und Chancen hatte, sich zu qualifizieren, sondern auch einen Stolz entwickeln konnte auf das, was er getan hat."

    Dieser Stolz, der in den Slogan "Ich bin Bergmann, wer ist mehr?" mündete, lag im Leistungsprinzip begründet: Je mehr Uran hoher Qualität den sowjetischen Kontrolleuren in großen Blechkisten vorgelegt wurde, umso mehr wurde gutgeschrieben, ausgezahlt, konsumiert in den Wismut-eigenen und gut gefüllten Geschäften. Das führte zu etlichen Tricksereien, von denen sich eine als besonders tragisch erwies:

    "Es gab seit 1947 die Anweisung, nass zu bohren, seit 1947, weil man wusste, dass dieser trockene Staub sehr gefährlich für die Lungen ist und Silikose hervorrufen kann. Das wusste man sehr genau. Und die Kumpel, oftmals junge, kräftige Männer, haben das ignoriert, weil sie gut Geld verdienen wollten. Das Nassbohren behindert den Vortrieb, macht das Arbeiten schwerer, und aus diesem Grunde haben viele immer wieder zeitweilig oder für längere Zeit diese Sicherheitsvorschriften wissentlich verletzt. In so einem riesigen Unternehmen, bei einem solchen Leistungsdruck, der auch innerhalb der sieben bis acht Männer starken Brigaden herrschte, war das gar nicht immer möglich, alle Sicherheitsvorkehrungen einzuhalten. Und mitunter hat auch der eine oder andere Schachtleiter oder Steiger beide Augen zugedrückt, weil der Plan erfüllt werden musste."

    Hinzu kam die anfänglich oft mangelnde Belüftung der Schächte, was insgesamt dazu führte, dass 90 Prozent der Erkrankungen in den frühen Jahren entstanden seien, schätzt Rainer Karlsch. Ab 1950 entstanden zumindest einige Sanatorien, wurde das Netz der gesundheitlichen Betreuung besser. Und im internationalen Vergleich sei die Wismut keine unrühmliche Ausnahme gewesen. Gleich ob im Schwarzwald, in den Minen von Colorado oder Kanada, im Kongo oder Südafrika - überall sei besonders der Umgang mit der radioaktiven Strahlung anfangs recht lax gewesen. Ihre Folgen wurden unterschätzt.

    1950 - das war das Jahr nach der Zündung der ersten sowjetischen Atombombe. Die Wismut hatte mit über 200.000 Menschen ihren personellen Höhepunkt erreicht. Nun wurden einerseits etwa 15.000 Kumpel entlassen. Andererseits wurde weiter in eine Stammbelegschaft investiert: Wohnungen wurden zu Tausenden gebaut, dazu über 80 Wismut-Klubhäuser eingerichtet. Die Zeit der Massenunterkünfte und Zwangseinquartierungen in Städtchen wie Schneeberg oder Johanngeorgenstadt ging vorüber. Rainer Karlsch hat das mit dem Wachstum amerikanischer Uranstädte verglichen:

    "Mehrere Kleinstädte in den USA behaupten, sie wären die Uranhauptstadt der Welt. Uranium-City behauptet es von sich, und Mop auch. Das sind Städte, die sind von einigen 100 Einwohnern auf 4000 bis 5000 gewachsen und glaubten, der Nabel der Uranproduktion in der Welt zu sein. Wenn man das vergleicht mit dem Wachstum der Uranbergbaustädte im Erzgebirge muss man sagen: Die Uranhauptstadt der Welt in den 50er-Jahren war nicht Mop in New Mexico, sondern Johanngeorgenstadt."

    Das binnen kurzem von 10.000 auf 35.000 Bewohner angeschwollen war. Jetzt leben dort weniger als 5000 Menschen.

    Und die sowjetischen Soldaten und Angestellten, wie erging es ihnen? Als sie in Deutschland einrückten, seien die Zustände hierzulande für viele ein Kulturschock gewesen, sagt Vladimir Sacharow, Geschichtsprofessor aus Moskau:

    "Die Lebensverhältnisse in Deutschland, selbst in der Nachkriegszeit, waren unvergleichbar mit den Lebensverhältnissen in der Sowjetunion. Stellen Sie sich vor: Die meisten Offiziere, die hierher als Sieger kamen - 99 Prozent von denen hatten keine eigene Wohnung! Die kannten nur ihr Dorf, die Kaserne mit kaltem Wasser. Und hierher ist er als Major gekommen und hat zum ersten Mal Hähne mit heißem und kaltem Wasser gesehen."

    Ihren Lohn erhielten sie in Rubel, die ihnen für die Heimat gutgeschrieben wurden, und in DDR-Mark für das Leben hier. Lukrativ wurde der Aufenthalt besonders für die Offiziere: Ein Jahr in Deutschland wurde ihnen als drei Jahre geleisteter Dienst angerechnet.
    Die Beziehungen zum "deutschen Brudervolk" trugen eher förmlichen Charakter: Man traf sich auf Einladung, was herzliche und lang andauernde Verbindungen nicht ausschloss. Sie hatten, sagt Tatjana Timofejewa, allerdings einen Haken:

    "Für jeden Besuch sollte man zuerst eine Erlaubnis in der zweiten Abteilung, Abteilung der Regime bekommen. Danach sollte man in diese zweite Abteilung gehen und über den Besuch berichten: Was haben Sie besprochen usw. Deshalb waren die sowjetischen Leute sehr vorsichtig."

    Die Wismut als Uranfördergesellschaft bestand mehr als 40 Jahre, und doch ist meist nur das erste Jahrzehnt in Erinnerung geblieben. Warum? Rudolph Boch meint:

    "Wenn so ein Betrieb in die Jahre kommt, Routine Einzug hält, und dazu noch öde planwirtschaftliche Routine, dann ist es für die Nichthistoriker völlig uninteressant und für die Historiker vielleicht noch interessant. Aber ich habe bei der Auswahl der Dokumente Ermüdungserscheinungen gehabt, weil sie in den 70er-/80er-Jahren eine Sprache haben, die eher Probleme verschleiert, als das es sie aufwirft. Die Sprache der 40er-/50er-Jahre war sehr direkt, sehr konfliktuös zwischen den verschiedenen Stellen."

    Am interessantesten seien noch die durchschimmernden Zwistigkeiten zwischen den Partnern Sowjetunion und DDR gewesen: Um Zuständigkeiten ging es und - in den 80er-Jahren - um den Fortbestand der Wismut an sich: Das Uranerz nahm ab und wurde qualitativ schlechter. Die DDR-Führung wollte sich keine Arbeitslosen leisten und beschäftigte weiter - zu guten Konditionen, wie Juliane Schütterle sagt. Der Kaufkraftüberhang wuchs aber landesweit.

    "Im Falle der Löhne gab es keine Lohnreduzierung bei der Wismut, sondern eher die Angleichung der anderen Industriebetriebe nach oben. In den 80er-Jahren hatten Industriearbeiter im Durchschnitt schätzungsweise 1200 Mark verdient, und bei der Wismut gab es ja auch starke Abstufungen. Ein Hauer vor Ort, der viel Erz findet, verdient immer mehr, und ein Ingenieur oder Techniker verdiente nicht ganz so viel. Also die Löhne glichen sich insofern an, dass die anderen ein bisschen mehr bekamen; bei Versorgung und Prämien hat es dann auch bei der Wismut ein bisschen nachgelassen. Man hat das auch in Stimmungsberichten - das MfS hat ja stark die Stimmung der Leute beobachtet. Und da ist da auch davon die Rede, dass man lange anstehen muss an den Fleischereien, oder dass man länger auf seinen Wartburg warten muss; aber das war immer noch ein Jammern auf hohem Niveau."

    Der Reiz des chaotischen Beginnens mit seinem Wild-West-Charakter und allmählichen Ordnens der täglichen Arbeit beherrschte auch die Reflexion von Künstlern wie Konrad Wolf. Sein Film "Sonnensucher" sollte ursprünglich "Das große Abenteuer" heißen, weil er genau diese wilde Anfangszeit schilderte. 1958/59 war es nach etlichen Debatten und Korrekturen dank Walter Ulbrichts Zustimmung soweit, dass er in die Kinos kommen sollte - aber da passte er den Sowjets nicht ins politische Kalkül. Sie setzten gerade auf atomare Abrüstung. So verzögerte sich die Veröffentlichung bis 1972.

    Noch länger, nämlich bis 2007, dauerte es, bis Werner Bräunigs Roman "Rummelplatz" in Gänze herauskam. Der Autor, der bestens mit dem Geschehen vertraut war, aber noch vor Veröffentlichung verstarb, liest selbst einen Ausschnitt:

    "Hin und wieder bricht eine Schlägerei aus. Dann strömen sie herbei von allen Seiten. Sie bilden einen Ring, feuern die Kämpfer an oder schlagen selber zu. Locker sitzen die Fäuste in den Taschen, die Messer, die zerknüllten Hundertmark-Scheine - der Rubel rollt. Polizisten lassen sich nach Einbruch der Dunkelheit nur selten sehen, und wennschon, dann weitab vom Schuss. Schnapsflaschen kreisen. Mädchen kreischen auf, zeigen auf der Luftschaukel ihre Schenkel, die Röcke hochgeschlagen vom Fahrtwind. Hinter den Buden blüht der Schwarzhandel. Geliebt wird auf umgestürzten Grabsteinen, auf vergessenen Bänken, an einen Baum gelehnt."

    Die veröffentlichten Auszüge wurden Gegenstand eines politischen Schauprozesses auf dem berüchtigten SED-Plenum im Herbst 1965. Erich Honecker als Initiator sagte zur teilweisen Vorabveröffentlichung von "Rummlplatz":

    "In diesem Abschnitt gibt es obszöne Details, gibt es eine falsche, verzerrte Darstellung des schweren Anfangs in der Wismut."

    Wozu, so der Gedankengang der SED-Oberen, hatte man denn 1959 den Bitterfelder Weg ausgerufen, der Künstler und Arbeiter zusammenbringen sollte? Die Kunstschaffenden sollten in die Produktion gehen, und die Arbeiter selbst Kunst schaffen lernen. Ironie des Schicksals: Das übergreifende Motto "Greif zur Feder, Kumpel" stammte von Werner Bräunig.

    "Idealer" weil idealisierend ging es in der bildenden Kunst zu. Damals begann die Wismut, Aufträge zu erteilen. Das erste ließ man vom Leipziger Heinrich Witz malen. Auf dem Bild hauen sich die Wismutkumpel nicht mehr, sondern reichen sich die Hand für einen "neuen Anfang", so der Bildtitel. Die Kumpel tragen Anzug und Krawatte; Schnaps ist auch nicht mehr zu sehen, sondern Sekt. Über 4000 Bilder sind durch Aufträge oder Ankäufe zusammengekommen; ein Gutteil soll in Chemnitz ausgestellt werden. Kuratorin Annette Spreitz:

    "Wir streben zwei Arbeitsweisen an. Einmal hat die Kunstsammlung mit einigen hochkarätigen, qualitativ wertvollen Werken durchaus die Berechtigung, für sich als Kunst zu stehen. Auf der anderen Seite bietet die Sammlung genügend Ansätze, um sie einzuordnen in die Unternehmensgeschichte generell."

    Wozu dann die Werke von Witz und anderen eher plakativ arbeitenden Künstlern gehören sollen, was nicht unumstritten ist und wohl noch eine Weile dauern wird. In diesem Herbst noch sollen die Resultate der dreijährigen Forschung veröffentlicht werden, in einem Studienband und einem dickeren Band mit den wichtigsten alten und neu gefundenen Dokumenten.