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Uraufführung in Hamburg
Lebensbedrohliche Brüche und Zerrüttungen

Sebastian Nübling hat Simon Stephens neues Werk in Hamburg uraufgeführt. Nach einem schönen Theatertrick kommen beide jedoch über ein forciertes Stückwerk nicht hinaus, findet unser Kritiker Michael Laages. Für die Schauspieler gibt es aber Lob.

Von Michael Laages | 16.03.2014
    Szenenbild aus dem Theaterstück: vorne Sängerin Rinat Shaham singend, im Hintergrund die drei Schauspieler in Aktion, auf der Rückwand der Bühne steht "voice in my head"
    Rinat Shaham als Carmen bei "Carmen Disruption" im Deutschen Schauspielhaus Hamburg, im Hintergrund Samuel Weiss, Christoph Luser und Anne Müller (v.l.) (dpa / Markus Scholz)
    Das war eine sozusagen doppelte Premiere. Denn auf der Bühne vom Hamburger Schauspielhaus stand eine Kopie vom Eingangsbereich des Theaters, und hunderte später Gäste strömten aus den Foyers und an uns im Zuschauerraum vorbei durch diese Entree-Kopie „hinein“; übrigens durch einen schönen alten Theatertrick ins Unendliche vervielfacht. Hinter der Bühne flitzten die Statisten wieder zurück ins Foyer und wieder an uns vorbei auf die Bühne; mindestens drei Mal. So wirken 40 Statisten wie ein volles Haus – für „Carmen“.
    Eine echte Sängerin tritt auf – und ab. Aus den schönen roten Schuhen steigt sie und verfällt in persönliche Verstörung: weiß irgendwann nicht mehr, wer sie ist und welche Rolle sie spielt, im Leben und auf der Bühne. Und parallel zu ihrer Geschichte beginnen vier andere: die von der jungen Studentin etwa, die gerade verlassen worden ist, dummerweise vom eigenen Professor. Am Ende wird sie dem Selbstmord nahe sein und Zeugin eines tödlichen Motorradunfalls. Gleich nach ihr taucht ein schwuler Callboy auf.
    Nach der narzisstischen Selbstbetrachtung erzählt er davon, wie er gerade einen Kunden, der sich nicht an die Regeln hielt, fast (oder tatsächlich) totgeschlagen hat in dessen Hotel; danach flüchtete er nach Hause und brachte fast auch noch die eigene Mutter um. Der Junge übrigens nennt sich beruflich tatsächlich „Carmen“. Don Jose, ein Taxifahrer, erwartet den wichtigsten Besuch seit ewigen Zeiten: Seinen Sohn hat er nach allerlei Trennungen seit Jahren nicht gesehen – und nach diesem Treffen wird er ihm folgen, bis in den Tod.
    Don Joses Taxi ist übrigens auch für zwielichtige Jobs zu mieten... Escamillo ist in der Stadt, weil er Geld braucht, um den Kopf noch aus der Schlinge zu ziehen, die aus lauter faulen Krediten besteht. Er ist hier zu Hause – und doch ein Fremder. So nervös ist der Finanz-Hai unter Druck, dass er immer die Souffleuse braucht.
    Fehlender Dialog fällt kaum auf
    „Carmen“ soll die Klammer sein; die verstörte Sängerin misst den vier Figuren die Rollen aus der Oper zu. Und die „Disruption“ im Stück-Titel benennt neben den tatsächlichen „Unterbrechungen“ (alle erzählen ja im Wechsel) die lebensbedrohlichen „Brüche“ und „Zerrüttungen“, die alle Geschichten prägen. Anne Müller und Julia Wieninger, Christoph Luser und Samuel Weiss erzählen mit größtmöglicher Intensität; immerhin.
    Einmal mehr hat Simon Stephens eine seit Jahren bewährte Methode genutzt – einzelne Geschichten, die eigentlich Monologe sind, so in- und miteinander zu verschränken, dass das Fehlen jeder Form von Dialog kaum auffällt. Extrem wichtig sind dabei stets die „Klammern“, die Kreuzungen der Stories: hier die „Carmen“-Oper und der tote Motorradfahrer. Im Stephens-Text gibt’s noch eine dritte Klammer: den Chor, also die Rolle des Zuschauers bei allen Geschichten. Regisseur Sebastian Nübling hat dem Chor allerdings fast allen Text genommen – und nun stehen die Statisten (nach der schönen Eröffnung) quasi nur noch rum, wirken wie überflüssige Zugabe. Die prächtige Sängerin Rinat Shaham spricht derweil nur englisch und vorzugsweise ins Handy – da funktioniert auch die Oper als Klammer eher nicht.
    Der tote Motorradfahrer schließlich ist eine eher dramaturgische Pointe – und so kommen Stephens und Nübling diesmal über forciertes Stückwerk nicht hinaus.