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Uraufführung
Schnitzler für die Oper

Arthur Schnitzlers Beziehungsdialoge sagen viel über asymmetrische und deformierte Verhältnisse der Geschlechter zu einander aus - und das gerne explizit. Die Schwetzinger Uraufführung des "Reigen" zeigt die bislang modernste und angemessenste Opern-Adaption des Schnitzler-Stücks.

Von Frieder Reininghaus | 26.04.2014
    Der 1931 verstorbene österreichische Schriftsteller und Arzt in einer zeitgenössischen Aufnahme.
    Der 1931 verstorbene österreichische Schriftsteller und Arzt in einer zeitgenössischen Aufnahme. (picture-alliance / dpa)
    Arthur Schnitzler, als Arzt mit dem Wiener Unterleib in beiderlei Gestalt vertraut, belauschte das alltägliche Paarungsverhalten in der k.&k. Monarchie sorgfältig und verdichtete die Beobachtungen zu einem elegant-brisanten Theaterstück. Dessen Beziehungsdialoge sagen viel über asymmetrische und deformierte Verhältnisse der Geschlechter zu einander aus, lassen so gut wie nicht an der voyeuristisch zu goutierenden Mechanik des Puderns teilhaben. Der erzkonservative Hugo von Hofmannsthal attestierte Schnitzler: "Ihr bestes Werk, Sie Schmutzfink".
    Polyglottes Theater-Musik
    Bernhard Lang kreiert aus dem einst heiß umstrittenen "Reigen" polyglottes Theater-Musik, diskursiv oder 'beredt'. Dessen unverwechselbares Kennzeichen ist die Wiederholungen von Satzteilen und musikalischen Partikeln, die allemal bei der zweiten oder dritten Wiederkehr variiert werden. Das Verfahren verweist auf den französischen Philosophen Gilles Deleuze: Indem es die theatralen Subjekte dekonstruiert, bringt es die Erzählformen durch die Repetitionen zum Stottern. Zugleich reagiert die mit elektronischen Mitteln operierende Komposition auf mediale Muster, die die Wahrnehmung der althergebrachten Wiederholung als zugleich kommunikatives und ästhetisches Mittel ins Bewusstsein heben: Die "verhackstückten" Texten entwickeln neue Subtexte.
    Neue Subtexte
    Der Regisseur Georges Delnon ließ nach einer seit den 80er Jahren probaten Regiepraxis die klassische Anordnung von Bühne und Parkett umdrehen: Die Zuschauer wurden also auf eine provisorische Tribüne verbannt, mit der Orchestergraben und Bühne überbaut wurden. Die Mitglieder des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart und der SWR-Big Band sitzen in den Logen, etliche Monitore auf ausgesuchten Plätzen des Parketts. Zwischen diesen mit Schriftzügen und Landschaftsbildern, unfallträchtigen Autofahrten und Autoskootern illuminierten Bildschirmen versieht eine Matratze in wechselnden Positionen ihren Grundlagendienst fürs Immergleiche in zehn Varianten. Die elfte gibt's vorab, als wüsste man nicht, worum es hier geht: Ein unbekleidetes Pärchen führt im Hintergrund exemplarisch vor, dass es hier im Kern um nackte Fleischeslust geht. Allerdings in unterschiedlichen verbalen Verpackungen, Kostümierungen und Entblößungsgraden. Der "Reigen" bietet punktuelle Zusammenkünfte von eiliger Direktheit und routinierter "Normalität" bis hin zur anfänglich verdrucksten Verhaltung oder der Vorbereitung des singulären ehelichen Verkehrs durch einen lauernden Diskurs über die vordem gemachten oder eben angeblich nicht gemachten Erfahrungen.
    Dem oralen und szenischen Variantenreichtum der Akte entspricht jener der musikalischen Intonationen: Alles mögliche "Halbseidene" aus der Unterhaltungsmusik der 20er, 50er oder 60er Jahre findet sich integriert – tändelnde Cha-Cha-Cha-Grundierung oder Anklang an die Hammondorgel, Bordun-Bässe aus der älteren Musikgeschichte und einige Passagen, die offensichtlich als ausgesprochen "öde" konzipiert wurden. Gerade in der partiellen Sparsamkeit der Mittel zeichnet sich die "Reigen"-Musik von Bernhard Lang positiv aus – Naturalismus der Liebesakt-Darstellung à la "Rosenkavalier" oder "Lady Macbeth von Mzensk" wird ziemlich konsequent vermieden. Almerija Delic als Prostituierte und Cornel Frey als potenter Polizist eröffnen den Reigen eines insgesamt gut besetztes Sänger-Teams, dem auch entschiedener Körpereinsatz zugemutet wird. Obwohl es sich bei der Schwetzinger Uraufführung um die bislang modernste und angemessenste Opern-Adaption des Schnitzler-Stücks handelt, blieb die Publikumsreaktion eher verhalten. Für die einen mag das Sujet immer noch igittigitt sein, andere hätten eine zeitgemäßere Literaturvorlage für eine bessere Grundlage erachtet – einen moderneren Text, z.B. auf der Augenhöhe von Michel Houellebecq.