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Uraufführung von John Neumeier
Zerbrechlichkeit des Glücks

Bürgerliche Glücksvorstellungen und Homosexualität, harte Arbeitswelt und träumerische Reisen: John Neumeiers Hamburger Ballettadaption von Tennessee Williams' berühmter "Glasmenagerie" ist eine gelungene Wanderung zwischen zerbrechlichen Sehnsüchten und gesellschaftlicher Realität.

Von Andreas Berger | 02.12.2019
weiß gekleidetet Tänzer mit Hüten, tanzen über die Bühne, im oberen Bildrand hängen rote Ballons
Tanzen bis die Wände kippen - das Hamburg Ballett mit "Die Glasmenagerie" (Kiran West)
Sanft und sacht breitet sich "The Unanswered Question" von Charles Ives aus und mit ihr der Blick des Dichters Tennessee Williams. In John Neumeiers Choreographie schaut er von einer Feuerleiter übers schillernde Meer und entdeckt dort einen kleinen Jungen: die eigene Kindheit. Orte und Zeitebenen sind wieder mal verschränkt in John Neumeiers jüngster Uraufführung mit dem Hamburg Ballett, der "Glasmenagerie" nach Tennessee Williams. Neumeier ist ein Meister solcher autobiografisch gefärbter Psychodramen. Und das "plastische Theater", das sich Williams einst erhoffte, ist nirgends in besseren Händen als bei Neumeier und seiner charakterstarken Compagnie.
Störenfried in der Schuhfabrik
In seiner "Kleinen Meerjungfrau" hatte Neumeier einst den Dichter Andersen übers Meer geschickt. Diesmal ist es Tennessee Williams, verkörpert von Edvin Revazov, während Félix Paquet dessen Alter Ego tanzt: die von Tennessee geschaffene Bühnenfigur des Tom. Der lebt mit Mutter Amanda und Schwester Laura allein und muss sie durch den hart getakteten Job in einer Schuhfabrik ernähren. Tom malt aber lieber unterm Tisch und bringt so die streng funktionierenden Arbeiter aus dem Rhythmus, die nun Entrechats und Pirouetten einbauen. Er ist ein verträumter Störenfried.
Auch Schwester Laura passt nicht in die Arbeitswelt. Während die auf Spitze trippelnden Sekretärinnen Schlange stehen, um ihr Getipptes abzuliefern, gerät sie mit ihrer Gehbehinderung ins Hintertreffen. Neumeier hat eine brillante Idee, Lauras Andersartigkeit zu zeigen und ersetzt an einem Fuß den Spitzen- durch einen Damenschuh, in dem sich zugleich ihre Hemmung zeigt, den Schritt in die erwachsene Weiblichkeit zu tun. Die zusätzliche Krücke wäre entbehrlich gewesen. Alina Cojocaru tanzt Laura so hinkend als unerwecktes Mädchen, aber in ihren Träumen, etwa während eines Kinobesuchs, hebt sie mit zwei Spitzenschuhen schwerelos in eine andere Wirklichkeit ab.
Homosexualität bei Williams und Neumeier
Hinter dem weißgekleideten Filmbeau, in dessen Armen sie sich träumend wähnt, steckt bei Neumeier der Basketballstar Jim, den auch Tom anhimmelt. Was in Williams’ Stück nur angedeutet ist, zeigt Neumeier ausführlich: die Homosexualität Toms. Hinreißend, wie variantenreich er die Annäherung an Jim gestaltet. Christopher Evans, obwohl eher Latin Lover als Muskelpaket, spielt mit sympathischer Unbefangenheit den zwischen Neugier und Geschmeicheltsein changierenden Kumpel, der aber Toms Beinschere lieber entflieht.
Tom landet in "Malvolios Magic Bar", die man von Gemälden Edward Hoppers zu kennen meint, die Lederkerle darin von Tom of Finlands Homofantasien. Mit einem Tuch umgarnt Malvolio (Marc Jubete) Tom, eine Szene spannungsvoll verzögerter Bewegungen, die sich in plötzlichen Zugriffen entladen.
Doch zu Hause wartet die Familie. Jim wurde eingeladen. Er ist als Mann für Laura ausgeguckt: Synchron dreinhüpfend mit Tom, charmiert er zunächst die Mutter. Patricia Friza gibt ihr kurz verträumte Würde. Jim lässt Laura auf seinen Schultern fliegen. Sein Kuss aus reiner Herzlichkeit ist für sie die Erfüllung und führt zur Ohnmacht. Verlegen im Rückzug zerbricht er das Einhorn ihrer Glasmenagerie, ihres Ersatztraumlands. Er ist froh, mit seiner hereinschneienden rosa Verlobten fliehen zu können.
Unsichtbare Wände bürgerlicher Moral
Mutter und Schwester lagern auf Toms Knien. Mit den Händen ertastet er die unsichtbaren Wände, die ihn einsperren. Es wird klar: Wenn er als Künstler und Schwuler leben will, muss er die kleinbürgerliche Enge verlassen. Bei Williams gab es noch keine Patchworklösung. Paquet tanzt das so kraftvoll-intensiv wie Cojocaru. Herzzerreißend, wie Laura unter dem Leuchter kauert und bei Tennessees Erscheinung die Lichter ausbläst.
Die Schwester hatte in Tennessee Williams‘ Leben keinen Platz, aber sie blieb doch in seinen Gedanken, wurde Auslöser dieses Stücks. Neumeier hat dies einfühlsam und in kunstvoller Überblendung spürbar gemacht. Einhelliger Applaus!