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Uraufführung "Wer ist Walter" am Theater Bonn
Suche nach einem authentischen Menschenkern

Das Theaterstück "Wer ist Walter" der jungen Schweizer Dramatikerin Ariane Koch ist ein philosophisches Kammerspiel. Bei der Uraufführung in Bonn verhandelt es die Frage, ob Ausbruch aus dem Leben überhaupt möglich ist – oder wir alle in Systemen gefangen sind.

Von Dorothea Marcus | 06.10.2018
    Drei Frauen und ein Mann stehen auf der Theaterbühne. Sie tragen einfarbige Gewänder in den Farben Grün, Pink, Türkis und Lila, drei Personen tragen Hütchen auf dem Kopf die aussehen wie umgedrehte große Papierblumen mit Stiel.
    In "Wer ist Walter" muss sich eine Gesellschaft mit einer Leerstelle auseinandersetzen. (Thilo Beu)
    Ein Bühnenbild, nicht ganz von dieser Welt: Geheimnisvoll vernebelt, leuchtet ein orangener Himmel, darunter azurblau ein Meer mit angedeuteten Fischen, in der Mitte ein silbernes Arrangement aus Heizstäben. Doch besonders schön ist hinten rechts der Mini-Bonsaivulkan, der kräftig glüht und raucht: Weltuntergang-Nippes. Ein surreal-apokalyptisches Operetten-Arrangement hat Martin Miotk auf die Bühne der Bonner Werkstatt gebaut. Mitten hinein springt eine – fünfköpfige Wandergruppe in Regencapes. Verzweifelt rufen sie nach Walter, er scheint auf dem Weg in die Natur verschollen zu sein – um dann unversehens singend auf eine pink angestrahlte Bühne zu springen und inbrünstig einen grünen Wurm zu besingen.
    "Walter please. Walter please. You are forgotten, you are lost. No one is ever going to find you, when you die…"
    Kammerspiel über Identitätssuche einer modernen Gesellschaft
    Was zunächst eher albern und trashig wirkt, wird bald zum philosophischen Kammerspiel über Identitätsfragen. Denn wer wünschte sich nicht im Zeitalter der medialen Überpräsenz, als Sklave der eigenen Lebens-To-Do-Listen, manchmal einfach aus einem System zu verschwinden, in dem man nur noch eine digitale Nummer ist? Zurück zu einer Natur, deren Vorstellung allerdings auch schon lange zum Klischee geworden ist? Und: Inwiefern ist das eigene, westeuropäische Mittelstandsschicksal nicht komplett kapitalistisch vorherbestimmt – und seriell austauschbar?
    "Das hat doch mit Menschsein nichts mehr zu tun. Es gibt doch Grundbedürfnisse wie Essen, Schlafen, Arbeiten und Konsumieren. Es kann doch nicht erlaubt sein, einfach so nicht mehr aufzutauchen. Ich fühle mich auch manchmal überflüssig und allein! Aber deshalb verweigere ich noch lange nicht die Teilnahme am wirtschaftlichen Kreislauf. Oder dem Lebenskreislauf. Oder was auch immer. Das muss doch gesetzlich irgendwo verankert sein."
    Fröhlich wechseln die fünf Schauspieler ihre Identitäts-Bekleidungen, schlüpfen in Zylinder, Königskronen, Pelzmäntel, Talare, schillernde Meerjungfrau-Kostüme, knallbunte Science-Fiction-Anzüge. Denn man ist, was man scheint, und unter den vielen Schichten und Rollen unseres Lebens befindet sich vielleicht überhaupt nichts. Genüsslich zitieren sie dabei literarische Vorbilder wie Melvilles "Bartleby", der einfach das Arbeiten einstellte, Disneys "Dschungelbuch", in dem Mogli mit Tieren verschmilzt - aber vor allem Rilkes Gedicht "Der Panther", in dem das Tier sein Gefängnis aus Stäben für die Welt hält. Und setzen sich prompt Panther-Masken auf. Welches Gefängnis den Menschengeist umgibt, ist gar nicht zu ermessen – kein Wunder, dass Walter sich da mal ausklinken wollte. Wer oder was ist hier eigentlich das Gefängnis, was die Freiheit?
    "Walter hat das Tor selbst aufgerissen. Hat es in die Luft gesprengt, die 1000 Stäbe niedergemäht. Und er verschwindet in den Wald! Und was tut er da? Schwingt er sich durchs Unterholz? Gestrüpp bleibt an ihm hängen? Unterhält er sich mit Geiern? Oder wandert? Liest er die Jahreszeiten von den Bäumen ab? Oder unterhält er eine Panda-Zucht? Der tut ja nichts! Und ist man der Welt nicht einiges schuldig? Und ist dem nicht verdammt langweilig? Was ist denn mit dem verkehrt? Wer ist Walter?"
    Lustige Groteske über große philosophische Fragen
    Walter ist natürlich nichts als ein Konzept, das für die Suche nach einem authentischen Menschenkern und vorbestimmten Lebenssinn steht. Und weil es den in Zeiten metaphysischer Ratlosigkeit eben nicht mehr gibt, wird da auf der Bonner Bühne mit großem, bunten Getöse das existentielle Nichts gefeiert – und das, was der Mensch tut, um sich mit ihm zu arrangieren. Kalauer und sinnfreier Quatsch inbegriffen: Simbi Sambi Bimba. Zum Schluss setzen sie sich die Blüten des überdimensionalen Maiglöckchen-Strauchs aus Plastik auf den Kopf, um gänzlich mit der Natur zu verschmelzen. Die Autorin Ariane Koch aus Basel, Jahrgang 1988, hat da auf 53 Seiten in 23 Kleinst-Kapiteln ein mit literarischen Verweisen gesättigtes, kluges Wort-Spiel geschrieben – und die Regisseurin Simone Blattner es angemessen quietschbunt umgesetzt. Eine kleine, lustige Groteske über große philosophische Fragen.