Urban Exploration

Das Haus des Apothekers

43:39 Minuten
Apothekerflaschen in einem verlassenen Bauernhof
Apothekerflaschen in einem verlassenen Bauernhof © Finn Schäfer / SagtMirNix
Von Manuel Gogos · 03.04.2020
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Was passiert an Orten, die seit Jahren oder gar Jahrzehnten unberührt sind von Menschenhand, weil kaum noch jemand weiß, dass es sie überhaupt gibt? Urbexer nennen sich Abenteurer, die vergessene Orte suchen und erkunden - so wie dieses verlassene Haus irgendwo im Nirgendwo.
Den Eingang ins Haus muss man erst suchen. Auf dem Tisch stehen noch Teller, als wäre plötzlich die Zeit angehalten worden. Wo ist der Bewohner dieses Hauses geblieben? War er Apotheker? Woher sollten sonst diese unzähligen Arzneischachteln kommen? Und dann: Hunderte, Tausende von diesen Apothekerfläschchen in allen Variationen, Farben und Formen.
Verlassener Bauernhof Zyankalikapseln
Verlassener Bauernhof, Zyankalikapseln© Finn Schäfer / SagtMirNix
Darunter Kolbenflaschen mit brauner Brühe, aus der giftige Gase entweichen. Spritzen, Morphine, und dann diese dicken Kapseln mit Conein – dem Gift aus dem Schierlingsbecher – die mit dem großen Totenkopf an die Zyankalikapseln der Nationalsozialisten erinnern. Wofür war das alles gedacht? Was hat der Apotheker seinen Patienten abgegeben (was er gewissenhaft in einer Medikationsliste mit Klarnamen notierte), und was davon hat er sich selbst gegönnt?
004 Urban Exploration, Bauernhof Porno Desert Lovers
Porno Desert Lovers © Finn Schäfer / SagtMirNix
Auf der Expedition in das verlassene Haus des Apothekers stoßen die akustischen Forschungsreisenden auch auf eine Pornosammlung aus den 1980er Jahren, VHS-Kassetten mit Titeln wie "Traumgirl", "Die Starfickerin" oder "Der Sexorzist". Den Film "Desert Lovers - In der Wüste geht’s geil her" finden sie rätselhafterweise gleich ein paar hundert Mal. Die Cover wurden von dem ehemaligen Hausbewohner liebevoll zu einer Zwei-mal-zwei Meter großen Collage drapiert, die Linien sorgfältig mit Bleistift und Lineal gezogen. So wird die Hausbesichtigung zu einer Zimmerreise in menschliche Abgründe. Der Urbexer, Reiseführer und Psychologie-Student Finn Schäfer spekuliert:
"Ich glaube nicht, dass der Mensch, der hier gelebt hat, ein glücklicher Mensch war. Ich glaube schon, dass das eher eine ziemlich traurige Seele war. Ich habe zumindest den Gedanken gehabt, dass der mit seinem Leben nicht mehr klar kam aus irgendeinem Grund, und sich dann irgendwelche Medikamente reingepfiffen hat, Pornos geguckt hat, in seiner eigenen Welt gelebt hat."
Verlassener Bauernhof, Messie-Dachboden
Messie-Dachboden© Finn Schäfer / SagtMirNix
Die Koordinaten dieses Hauses bleiben geheim, so will es der Kodex der Urbexer. Auf der inneren Landkarte des Urbexers Finn Schäfer gibt es viele solche "Lost Spaces": Stahlwerke, verlassene Bergwerke, mit hunderten Metern Stollen, unterirdische U-Bahnanlagen, verlassene Krankenhäuser und Gefängnisse – Orte, die Einsamkeit atmen können, wie das "Haus des Apothekers" oder die Anziehungskraft des Verbotenen haben, den Charme des Verfalls.
Manche Urbexer fühlen sich bei ihren Wochenend-Expeditionen in den Dschungel der Großstadt wie ein Indianer Jones im Westentaschen-Format, meint Finn Schäfer. Er ist da entspannter. Kommt einfach lieber hierher, um Geschichte zu erleben wie sie war, als ins Museum zu gehen, wo die Historie für die Besucher immer irgendwie "hergerichtet" ist. Was findet sich am Ende der zugewucherten Wege? Was schlummert tief unter der Erde, unter einer großen Stadt, direkt oben drüber tobt das Leben? Solchen Fragen auf der Spur wird im Mikrokosmos "Urban Exploration" eine Welt sichtbar gemacht, die sonst meist unbemerkt bleibt, obwohl sie direkt neben unserem Gesichtsfeld liegt.
(Wiederholung vom 22.09.2017)
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