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Urteil gegen Radovan Karadzic
Aufarbeitung eines grausamen Völkermords

Das UN-Kriegsverbrechertribunal fällt heute sein Urteil gegen den ehemaligen bosnischen Serbenführer Radovan Karadzic, der wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt ist. Er soll für die Ermordung Tausender muslimischer Zivilisten während des Jugoslawienkriegs ab 1992 verantwortlich sein - von einem Freispruch geht selbst seine Verteidigung nicht aus.

Von Kerstin Schweighöfer | 24.03.2016
    Der bosnische Serbenführer Radovan Karadzic vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal im Gerichtssaal im Den Haag
    Der bosnische Serbenführer Radovan Karadzic vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal im Gerichtssaal im Den Haag (AFP / Michael Kooren)
    "This is case: the prosecution against Radovan Karadzic."
    Fast 13 Jahre waren seit der Anklageerhebung 1995 verstrichen. Doch dann, am 31. Juli 2008, trat ein, womit kaum noch jemand gerechnet hatte - Radovan Karadzic, der ehemalige Führer der bosnischen Serben, stand vor den Richtern des Jugoslawientribunals in Den Haag:
    - "Mr. Karadzic. Would you please for the record state you full name?"
    - "Radovan Karadzic."
    Neun Tage zuvor war Karadzic in Belgrad verhaftet worden, kaum wiederzuerkennen mit Brille und langem weiss-grauen Bart. Der damals 63-Jährige hatte eine neue Identität angenommen: als Doktor Dragan Dabic mit einer Praxis für alternative Medizin in Belgrad.
    Nun konnte er endlich zur Rechenschaft gezogen werden, unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen während der Belagerung von Sarajewo, die 10.000 Zivilisten das Leben kostete. Und wegen doppelten Völkermordes. Nicht nur in Srebrenica 1995, als die bosnischen Serben mehr als 7.000 muslimische Männer und Jungen ermordeten. Auch schon im ersten Kriegsjahr 1992 in verschiedenen westbosnischen Dörfern: Die nichtserbische Bevölkerung wurde vertrieben oder ermordet.
    Mehr als 20 Jahre nach den Verbrechen
    Zur Urteilsverkündung sind Hunderte von Überlebenden und Angehörigen der Opfer nach Den Haag gereist. Mehr als 20 Jahre haben sie auf diesen Moment gewartet. Aber, so Chefankläger Serge Brammertz, für Gerechtigkeit sei es nie zu spät:
    ”Für diejenigen, die vor 20 Jahren ihre Familienmitglieder, ihre Ehemänner und Söhne verloren haben, für diese Opfer sind das keine Straftaten, die vor 20 Jahren begangen wurden und die Teil der Geschichte sind. Für diese Opfer sind das Momente, die niemals vergangen sind und auch heute ihr Leben dominieren."
    Karadzic ist der ranghöchste der 161 Angeklagten des Tribunals, abgesehen von Slobodan Milosevic. Doch der ehemalige Präsident Serbiens starb während seines Prozesses 2006 in Den Haag an Herzversagen.
    Das mache den Prozess gegen Karadzic zum wichtigsten in Europa seit den Prozessen von Nürnberg, sagt Aaron Matta vom Institute for Global Justice in Den Haag, einem unabhängigen juristischen Forschungsinstitut. Wobei das schwerste Kriegsverbrechen, das seit dem Zweiten Weltkrieg auf europäischem Boden verübt wurde, im Zentrum stehe: der Völkermord von Srebrenica.
    Prozess hat acht Jahre gedauert
    Der Prozess hat sich über acht Jahre hingezogen. Die Anklage präsentierte mehr als 10.000 Beweisstücke und rief 337 Zeugen auf – Überlebende aus Srebrenica und Sarajewo, Krankenschwestern, Soldaten und Polizeichefs, Historiker, Politiker, Blauhelme und Mitarbeiter der Vereinten Nationen.
    Karadzic hat sich selbst verteidigt, unterstützt von einem Team an internationalen Rechtsberatern unter der Leitung des New Yorker Anwalts Peter Robinson. Er führte 248 Zeugen auf und wies alle Anklagepunkte als haltlos zurück: Die Belagerung von Sarajewo sei von den Muslimen selbst inszeniert worden, um internationale Entrüstung zu wecken. Der erste Völkermord 1992 in den westbosnischen Dörfern habe nicht stattgefunden, vom zweiten in Srebrenica will Karadzic nichts gewusst haben.
    Sein Rechtsberater Robinson beklagt, dass der Angeklagte keinen fairen Prozess bekommen habe: Er wurde dämonisiert und das Prinzip der Unschuldsvermutung auf den Kopf gestellt, so Robinson. Nicht "unschuldig, sondern schuldig bis das Gegenteil bewiesen werden konnte".
    Von einem Freispruch geht auch Robinson nicht aus. Die entscheidende Frage lautet, ob Karadzic wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt wird – oder tatsächlich wegen Völkermords.