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Archiv


Urteilssicher und hellsichtig

Herzog Emmanuel von Croÿ lebte von 1718 bis 1784. Der Münchner Schriftsteller Hans Pleschinski stieß 1980 in einem Pariser Antiquariat auf Croÿs Aufzeichnungen - darunter Briefe von Rousseau, von Marie Antoinette und den Gebrüdern Montgolfier. Der französische Herzog erwies sich als grundehrlicher Chronist seiner Zeit.

Von Katrin Hillgruber | 05.03.2012
    Hans Pleschinski: "Der Herzog von Croÿ ist so eine Art Bindeglied zwischen einer mittelalterlich-feudalen Gesellschaft und einem Großbürger des 19. Jahrhunderts eigentlich. Er ist stolz auf seine Privilegien, das ist selbstverständlich, man kannte nichts anderes, aber gleichzeitig auch ein humaner Mann, der auf seinen Ländereien Schulen baut, Pensionen aussetzt, sich darum kümmert, dass in seinen Bergwerken keine Unmenschlichkeit herrscht; winzige Sachen offenbaren eben einen tief humanen Charakter."

    Herzog Emmanuel von Croÿ lebte von 1718 bis 1784. Der Münchner Schriftsteller Hans Pleschinski stieß 1980 in einem Pariser Antiquariat auf Croÿs Aufzeichnungen. Seitdem bewahrte er Kopien aus den 41 handschriftlichen Bänden auf, wobei der schreibwütige Chronist Croÿ seine Eindrücke sogar auf Spielkarten notierte, wenn kein Papier zur Hand war. Auszüge aus diesem riesigen Konvolut flossen in die Briefwechsel der Madame Pompadour sowie zwischen Friedrich dem Großen und Voltaire ein, die Pleschinski als profunder Kenner des französischen Hofes ins Deutsche übertrug. Er stieß bei seinen Recherchen aber auch auf sensationelle Trouvaillen wie Croÿs Briefwechsel mit den Gebrüdern Montgolfier. Zugewandt, an allem interessiert und vorurteilsfrei erscheint der Herzog in seiner Korrespondenz. Hans Pleschinski:

    "In einem Archiv fand ich verschlossene Briefstapel mit blauem Seidenband, beim Tod des Herzogs verschlossen, die während der Revolution nach Belgien geschafft wurden, danach nach Deutschland geschafft wurden, und nie wieder geöffnet worden waren und ich hatte die Möglichkeit, diese Schnüre zu öffnen und in den Briefwechsel zwischen Herzog von Croÿ und den Brüdern Montgolfier zu lesen, das wäre ein eigenes Forschungsgebiet. Es gab aber auch Briefe von Rousseau, Briefe von Marie Antoinette, das ist ein Schatz ohne Ende, und da erfuhr man mustergültig, was in deutschen Privatarchiven oder in ganz Europa für Schätze verborgen sind. Und der Geruch der Echtheit dieser Briefe, die dann vor einem liegen, die Schrift Marie Antoinettes, das erste Mal nach 250 Jahren wieder gelesen, ist ungeheuer betörend."

    Kurz vor seinem Tod und damit seinem eigenen "Entschweben" in höhere Sphären hatte der bereits schwerkranke Herzog noch den ersten Aufstieg eines Heißluftballons finanziell und logistisch befördert, was dem Schluss der Aufzeichnungen etwas so Anrührendes wie Visionäres verleiht.

    Als historisch versierter Romancier schätzt Hans Pleschinski den Wechsel zwischen der Gegenwartsfiktion wie seinem jüngsten Roman "Ludwigshöhe" und Frankreichs glorreicher Vergangenheit:

    "Generell wechsle ich recht gerne – das war am Anfang kein großer Plan – zwischen den eigenen Romanen und Übertragungen aus dem Französischen, weil es für einen Autor und Menschen auch erschöpfend sein kann, permanent Romane zu erfinden, das geht sehr an die Substanz. Die Übersetzung und das Entdecken von Büchern aus dem Französischen ist die charmantere Arbeit. Das hat sich so ergeben. Und da das Französische mir sehr liegt, der Stoff unendlich reich ist, hat sich das immer wieder ergeben, sozusagen im 18. Jahrhundert in Frankreich zu fischen und etwas ans Tageslicht zu heben. Es ist für mich wie eine arbeitsame, aber große Urlaubsreise jedes Mal."

    Schon als Jugendlicher war der Verfasser eines Breviers mit dem programmatischen Titel "Verbot der Nüchternheit" dem Glanz von Versailles erlegen. Diese Faszination hält bis heute an:

    "Es war etwas völlig anderes als die Lüneburger Heide, in der ich groß geworden bin und die plattdeutsche Umgebung. Und da ich Französisch im Schulunterricht hatte, der erste Schüleraustausch nach Frankreich ging, öffnete sich da eine andere Welt, der Westen, Frankreich, das Romanische. Und der Höhepunkt war natürlich ein kurzer Besuch mit meiner Gastfamilie – ich war 15 – in Versailles, das unfassbar schön und groß in der Landschaft lag, Frankreich symbolisierte. Später - natürlich verbunden mit einer Liebe in Paris in jüngsten Jahren - bin ich dann immer dorthin gefahren und habe sogar Nächte vor dem Schloss zugebracht, dort geschlafen, wir haben gepicknickt und wollten den Sonnenaufgang über dem Schlafzimmer des Sonnenkönigs beobachten, und das war ein gewisses Ritual, was für eine Festlichkeit des Lebens stehen sollte."

    Nicht weniger als zehn Titel führte der Herzog, Feldherr und Diplomat Croÿ, darunter Fürst des Heiligen Römischen Reiches, Erbgroßjägermeister von Hennegau und Kommandant Seiner Majestät in der Picardie, dem Calaisis und dem Boulonnais. In Frankfurt erlebte Croÿ die Kaiserkrönung Karl VII. mit, damals das größte gesellschaftliche Ereignis in Europa. Der Herzog, Verfasser einer 17-bändigen Naturgeschichte, erscheint als Kind seiner Zeit, des Jahrhunderts der Enzyklopädien. Er war ein so wendiger, aufgeschlossener Geist, dass er sich zu fast jedem aktuellen Thema äußerte, und zwar im Gegensatz zu manch anderen berühmten Tagebuchschreibern wie Giacomo Casanova oder Samuel Pepys grundehrlich, wie der Herausgeber und Übersetzer im Nachwort betont. Denn Croÿs Lebensbericht sollte im Familienbesitz bleiben und eigentlich nicht veröffentlicht werden.

    Dass dieses erstmals für das deutsche Publikum nun doch geschah, ist Hans Pleschinskis bewundernswerter philologischer Kärrnerarbeit zu verdanken. Gut anderthalb Jahre recherchierte er in Archiven in Paris und Dülmen. Schließlich entstammte der Herzog und spätere Marschall einer Familie mit nordfranzösisch-westfälischen Wurzeln, wie der Herausgeber erklärt:

    "Er ist auch in Frankreich unbekannt – in Belgien ist er sehr bekannt, da hat die Familie lange gewohnt, auf belgischem Territorium, es gibt viele Croix-Alleen, die Belgier sagen "Croix" zu ihm. In Dülmen residiert immer noch die herzogliche Familie, hat die einzige Wildpferdeherde in Deutschland unter anderem. Und die Familie musste während des Terrors der Revolution aus Frankreich fliehen auf ihre belgischen Besitzungen, also in den österreichischen Niederlanden damals, und in einem Austauschprojekt von Ländereien 1803 sind sie auf ihre deutschen Besitzungen gekommen in Westfalen, denn der Herzog von Croÿ war gleichzeitig deutscher Reichsfürst. Ein Ahne von ihm ist durch Kaiser Maximilian I. zum Reichsfürsten ernannt worden und das machte dann auch das Besondere aus, dass wir es mit einem bi-nationalen Hocharistokraten zu tun haben, der eben auch die französisch-deutschen Grenzen nicht nur körperlich, sondern auch geistig permanent überschreitet, und das ist hochselten für das 18. Jahrhundert. Und das hat mich beim Übersetzen auch sehr erfreut, dass lange vor Madame de Staël, die das dichterische Deutschland entdeckte, ein kühlerer Franzose Deutschland keineswegs abtut als dumpf, rückständig, überhaupt nicht, es ist einfach der andere Nachbar am Rhein, ein großes, kompliziertes Staatsgebilde, was aber sehr dynamisch war."

    Das Tagebuch des Herzogs von Croÿ ist ein wunderschön ausgestattetes Buch mit zeitgenössischen Illustrationen; den Umschlag ziert ein graziler Herrenschuh mit Schmuckschnalle und recht hohem Absatz. "Unselig die Menschen, die schon durch Geburt und Rang der schönen Dinge müde sind", kritisierte der Herzog am Vorabend der Französischen Revolution das Herrscherhaus. Das tat er sonst nur selten, schließlich war er eher konservativ orientiert und bemerkte stets erfreut, dass Ruhe in Paris herrsche. Geplagt von Gichtanfällen kämpfte er sich im undurchsichtigen Machtsystem des Ancien Régime empor, stets um Omnipräsenz bemüht. Diese interne Versailler Atmosphäre erinnert frappant an Choderlos de Laclos' "Gefährliche Liebschaften". Dennoch bewahrte er stets eine beneidenswerte innere Ruhe, auch nach dem frühen Tod der lungenkranken Madame Pompadour im Jahr 1746. Sieht der Pompadour-Experte Pleschinski die einflussreiche Maitresse durch die Aufzeichnungen ihres Zeitgenossen Croÿ jetzt in neuem Licht?

    "Nein, sie erscheint so, wie in ihren eigenen Briefen, die ja in Deutschland auch unbekannt waren. Ich habe Madame de Pompadour seit der Übersetzung ihrer Briefe immer für eine Mischung aus Claudia Schiffer, Hillary Clinton und Margret Thatcher gehalten: tough, schön und charmant. In den Tagebüchern des Herzogs von Croÿ sieht man sie in Aktion, eine überlastete Schönheit, der die ganze Staatsarbeit aufgebürdet war, die hunderte von Bittgesuchen täglich bekam und auch beantwortete. Und insofern hat sie mich nicht überrascht, aber man sieht in ihr einen großen weiblichen Minister, umgeben von vielen unfähigen Männern. Und wenn dann in dem Tagebuch des Herzogs von Croÿ steht, wir verloren eine Schlacht in Deutschland, Madame de Pompadour war schockiert, dann sieht man diese ganze Spannung, die an diesem Hof in der Umgebung der Madame der Pompadour herrschte."

    Urteilssicher und hellsichtig erkannte Croÿ die Größen seiner Zeit – sei es Rousseau, an dessen Fersen er sich neugierig heftete, sei es der kaffeesüchtige, ketzerisch diesseitige Voltaire, der Weltreisende Brite James Cook oder Ludwig XV., dessen qualvollen Pockentod er ergreifend schildert. Es ist seine frische, ungeteilte Aufmerksamkeit, die dieses Buch so zeitlos modern macht. Sie galt ebenso der Schönheit deutscher Landschaften, einer Transvestitin aus Pflichtbewusstsein namens d'Eon oder einem Elefantenrüssel. "Bequeme dich dem Heißen wie dem Kalten, Dir wird die Welt, du wirst ihr nicht veralten" dichtete Johann Wolfgang von Goethe im "West-östlichen Diwan". Er könnte damit den Herzog von Croÿ gemeint haben. Oder wie Hans Pleschinski sagt:

    "Ohne viel Aufhebens hat er eine mitfühlende Seele, die manchmal aktiv wird, und so hat man dann einen hochadeligen, netten Kerl vor sich."

    "Nie war es herrlicher zu leben. Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croÿ". Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Hans Pleschinski. C.H. Beck Verlag, München 2011. 428 Seiten mit 24 Abbildungen, 24,95 Euro.