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US-Abzug aus Syrien
"Erdogan kriegt grünes Licht"

Die Verteidigungsexpertin der Grünen, Agnieszka Brugger, hat die Entscheidung der USA, ihre Truppen aus Syrien abzuziehen, als "typischen Trump" bezeichnet. Zu den Gewinnern gehöre die Türkei, die eine neue Offensive in Nordsyrien plane. Die großen Leidtragenden seien die Kurden dort.

Agnieszka Brugger im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 20.12.2018
    US-Truppen mit gepanzerten Fahrzeugen gehen in Stellung in den Außenbezirken der Stadt Manbij.
    Die USA will ihren Truppen innerhalb von zwei bis drei Monaten aus Syrien abziehen (dpa-Bildfunk / AP / Arab 24 network)
    Jürgen Zurheide: Wir wollen beim Thema bleiben, nach den Hintergründen fragen und vor allen Dingen weiterdenken, was da politisch eigentlich gerade passiert. Ich begrüße Agnieszka Brugger, die für die Grünen im Verteidigungsausschuss des Bundestages sitzt. Zunächst einmal: Schönen guten Abend, Frau Brugger!
    Agnieszka Brugger: Guten Abend.
    Zurheide: Ist das nun, was wir da gerade heute gehört haben, eine typische Trump-Entscheidung, ich könnte sagen, ohne Sachkunde und aus dem Bauch heraus? Oder entdecken Sie irgendwas anderes?
    Brugger: Es ist mal wieder eine böse Überraschung, die uns über Twitter ereilt und ein großes außenpolitisches Chaos verursacht. Insofern leider, leider ein typischer Trump. Man sieht daran aber, finde ich, auch noch mal ganz gut, dass die Geschichte dieses blutigen Krieges in Syrien eine Geschichte ist von Staaten, die nur ihre eigenen kurzfristigen egoistischen Interessen verfolgen und damit vor allem die Menschen in Syrien schädigen und die überhaupt nicht im Blick haben, und dass am Ende wir wirklich hier vor Ruinen stehen, wo man wirklich viel hätte tun können, und am Ende ist es auch ein Scheitern der internationalen Organisationen wie EU, NATO und Vereinte Nationen, die von ihren Mitgliedsstaaten wirklich schlimm im Stich gelassen worden sind.
    "Komplett besiegt ist der sogenannte Islamische Staat nicht"
    Zurheide: Jetzt versuchen wir mal, die unterschiedlichen Dinge abzuschichten. Erstens: Der IS ist natürlich nicht besiegt. Oder wie sehen Sie das?
    Brugger: Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass er militärisch besiegt worden sei. Trotzdem stimmt das natürlich nicht ganz. Es gibt gerade an der Grenze Syrien-Irak noch Gebiete, die nach wie vor vom sogenannten Islamischen Staat gehalten werden und noch nicht zurückerobert worden sind. Gleichzeitig sieht man natürlich an den Anschlägen im Irak, aber auch hier in Europa, dass es diese Organisation mitnichten nicht mehr gibt. Deshalb muss man sich auch noch mal eins klarmachen: Am Ende kann man auch Terrorismus nie militärisch besiegen, sondern es ist ein politischer Kampf, und der muss ganz oben auf der politischen Agenda stehen.
    Und ich würde mir wünschen, dass Deutschland bei seinem nicht ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wirklich dieses Thema auch mit ganz nach oben setzt, nämlich die Ursachen von Terror und Gewalt weltweit stärker anzugehen. Wir sollten da nicht nur über Militär sprechen. Aber in der Tat ist es so, auch wenn es militärische Erfolge gab: Komplett besiegt ist der sogenannte Islamische Staat nicht.
    Agnieszka Brugger spricht im Deutschen Bundestag zu den Abgeordneten.
    Die Grünen-Abgeordnete Agnieszka Brugger (Christophe Gateau/dpa)
    "Die Entscheidung von Trump ist besonders verheerend"
    Zurheide: Zu den großen Verlierern heute gehören die Kurden. Ist das wahrscheinlich die leider, muss man sagen Nachricht des Tages?
    Brugger: Die aller-allergrößten Verlierer sind die Menschen in Syrien und in diesem Fall ganz besonders die Kurden. Das macht diese Entscheidung von Trump ja auch so besonders verheerend. Fast zeitgleich hat Präsident Erdogan seine nächste Offensive in Syrien angekündigt. Wir müssen nur nach Afrin schauen, um zu sehen, was das bedeutet - sowohl in der Härte der militärischen Offensive als auch bei den Zuständen, die dann im Anschluss damit einhergehen. Auch da ist ja die Situation mitnichten gelöst.
    In einer solchen Situation kündigt die USA ihren Rückzug an und gibt eigentlich Präsident Erdogan für diese brutale Aktion auch noch grünes Licht. Das haben die Kurden in Nordsyrien wirklich nicht verdient, die es ja geschafft haben, in diesen chaotischen Zuständen ja durchaus auch Verwaltung aufzubauen, bestimmte Werte zu leben, die uns hier auch von den Demokratien her sehr nahe sind. Die Kurden sind leider die großen Leidtragenden.
    Ich frage mich aber auch, was eigentlich mit der Bundesregierung ist. Ich würde mir da wirklich zumindest erst mal eine klare Reaktion wünschen Richtung Türkei. Aber auch da ist wieder nur einmal lautes Schweigen angesagt.
    Zurheide: Jetzt haben wir gesagt, die Kurden verlieren. Profitieren die Türkei auf der einen Seite und Assad auf der anderen Seite? Das ist der andere Gewinner oder?
    Brugger: Ja! Die Gewinner sind die Türkei, Russland, der Iran und das Assad-Regime, und das zeigt natürlich noch mal die ganz besonders verheerenden Dimensionen dieser Entscheidung von Donald Trump auf. Und der sogenannte Islamische Staat ist eigentlich auch noch ein Gewinner. Also wirklich eine ganz fatale Entscheidung, und das sage ich als jemand, die diesen Einsatz ja immer kritisiert hat.
    Ich finde es wirklich absehbar, was für ein größeres Chaos sich durch diese kurzfristige Aktion, durch die Art und Weise, wie er diesen Abzug angekündigt hat, ohne Rücksprache mit den Partnern, offensichtlich ohne Rücksprache auch mit Teilen seiner eigenen Regierung. Das führt auf jeden Fall sicherlich nicht zu einer guten Ausgangslage für irgendwas.
    "EU sollte aus dem Dornröschenschlaf aufwachen"
    Zurheide: Jetzt denken wir mal nach vorne. Ob man Herrn Trump wird einfangen können, darf man bezweifeln. Was kann, was muss Europa tun? Hat Europa eine Chance? Hat Deutschland eine Chance? Sie haben gerade angemahnt, da müsste was passieren. Was denn bitte?
    Brugger: Die Europäische Union sollte wirklich endlich aus dem Dornröschenschlaf aufwachen und eine aktivere Rolle in Syrien übernehmen. Es gibt jetzt eine Reihe von Themen, die man dringend aufgreifen muss. Das eine ist natürlich die Situation mit Israel, mit Blick auf den Iran, mit dem Schauplatz Syrien. Das andere ist das Thema Türkei und die angekündigte Offensive.
    Ich glaube, da muss die EU eine klare Haltung finden. Da muss man aber auch in der NATO endlich mal drüber reden und kann sich vor dieser schwierigen Debatte nicht wegducken. Mit dem, was die Türkei in Afrin gemacht hat und was sie jetzt wieder angekündigt hat, verletzt sie ja den NATO-Vertrag von vorne bis hinten.
    Zurheide: Was heißt das konkret, wenn ich da zwischengehen darf? Was würden Sie da konkret tun? Welche Möglichkeiten hat man, außer zu sagen, bitte, Erdogan, lass das?
    Brugger: Na ja. Das wäre übrigens schon mal ein Anfang, das wenigstens auch mal klar so zu benennen, statt sich immer wegzuducken. Aber gleichzeitig gibt es zum Beispiel NATO-Stützpunkte in der Türkei. Die Debatte hatten wir ja schon mal, auch über die Stationierung der AWACS, wo man, finde ich, nicht nur über den Abzug der deutschen Tornados isoliert reden sollte, sondern wenn die NATO den Druck erhöhen möchte, kann sie beispielsweise ja in Aussicht stellen, einen solchen Abzug einzuleiten, wenn ein Bündnispartner wirklich mit Füßen tritt, worauf man sich eigentlich geeinigt hat und was das Selbstverständnis einer Organisation wie der NATO ist.
    Ich glaube, es gibt da durchaus Möglichkeiten, klarzumachen, dass man ein solches Vorgehen nicht akzeptiert. Ich habe davon aber bisher in den letzten Tagen so gut wie gar nichts gesehen.
    "Bundesregierung hat kaum klare Worte gefunden"
    Zurheide: Dann sind die Amerikaner als größter NATO-Partner ganz oben. Dann lässt man die NATO insgesamt platzen, oder wie kann ich mir das vorstellen?
    Brugger: Wir müssen ja wirklich nur an die Situation in Afrin zurückdenken, wo der NATO-Generalsekretär auf offener Bühne mit der Frage konfrontiert wurde, wie er das bewertet, wie das eigentlich mit den Werten der NATO vereinbar ist, und man eigentlich so gut wie komplett dazu geschwiegen hat, wo auch die deutsche Bundesregierung kaum klare Worte gefunden hat, sondern wochenlang Pirouetten gedreht hat und sich davor gescheut hat, einen klar völkerrechtswidrigen Einmarsch auch dann so zu benennen.
    Ich glaube, da geht auf jeden Fall mehr. Und dann, wie gesagt, kann man natürlich auch konkrete Konsequenzen ins Auge fassen, beispielsweise die Stationierung der AWACS in der Türkei in Frage zu stellen.
    Zurheide: Und militärisch irgendetwas zu tun, in die Lücke zu stoßen, die die Amerikaner jetzt lassen - ich benutze diese militärische Terminologie -, ist das für Sie ausgeschlossen?
    Brugger: Wir Grüne haben den Einsatz ja aus vielen verschiedenen Gründen kritisiert, haben gleichzeitig aber auch gesagt, dass man durchaus unter bestimmten Bedingungen auch militärisch gegen den sogenannten Islamischen Staat vorgehen könnte. Ich glaube, was sich jetzt eher anschließt, wenn man das mal ganz realistisch bewertet, ist die Frage, wofür dann noch dieser Tornado-Einsatz der Bundeswehr. Wir haben immer gesagt, ein riesiges Problem und ein Grund, weshalb wir gegen diesen Einsatz sind, ist die Gefahr, dass über diese Daten die Türkei genau solche Offensiven dann durchführt, wie wir sie in Afrin gesehen haben und wie wir sie möglicherweise in Nordsyrien sehen werden.
    Da muss man jetzt sagen, die letzte Begründung für diese Tornado-Aufklärungsflüge, die ja war, das machen wir, um bestimmte Ziele zu markieren, die nicht angegriffen werden dürfen, wie Schulen oder Moscheen, die ist ja jetzt auch vom Tisch mit dem angekündigten Rückzug der USA, und eigentlich muss man realistischer Weise sagen, dass man diesen Tornado-Einsatz, der ja ohnehin nächstes Jahr enden sollte, an der Stelle einfach so schnell wie möglich beenden muss.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.