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US-Juden und US-Muslime
Zwischen Angst und Pragmatismus

Muslime könnten schon bald die zweitgrößte Religionsgemeinschaft in den USA werden – eine Position, die derzeit noch von Juden gehalten wird. Amerikas jüdische Gemeinschaft stellt sich auf die neuen Mehrheiten ein – teils mit Furcht, teils mit Neugier und vor allem mit einer großen Portion Pragmatismus.

Von Katja Ridderbusch | 18.05.2016
    Arabischen Bevölkerung in Michigan
    Dearborn in Michigan ist eine der "muslimistischen" Städte der USA (Jeff Kowalsky)
    Die Stadt Dearborn im Bundesstaat Michigan, 14 Kilometer westlich von Detroit, an einem Freitagnachmittag. Hier sind 30 Prozent der Bewohner arabischer Herkunft, viele davon Muslime. Dearborn ist eine Ausnahme in den USA – noch.
    71 Prozent der Amerikaner identifizieren sich derzeit als Christen, zwei Prozent gehören dem jüdischen Glauben an, ein Prozent bekennt sich zum Islam. Allerdings kommt eine Umfrage des Pew-Forschungsinstituts zu dem Ergebnis: In 20 Jahren dürften Muslime zur zweitgrößten Religionsgemeinschaft in den USA aufsteigen – als Folge wachsender Einwanderung und hoher Geburtenraten.
    Das Wachstum der muslimischen Bevölkerung in Amerika sei nicht aufzuhalten, sagt Rabbiner Noam Marans, zuständig für interreligiöse Beziehungen beim American Jewish Committee – und zwar in der Zentrale der Nichtregierungsorganisation in New York. Die jüdische Gemeinschaft müsse sich darauf einstellen und Beziehungen aufbauen.
    Die Einwanderer-Erfahrung verbindet
    Dabei ist die Reaktion der amerikanischen Juden auf den demographischen Wandel so vielfältig wie die jüdische Gemeinschaft in den USA selbst. Die Mehrheit suche den Brückenschlag, sagt Marans. Weil sie die Einwanderer-Erfahrung teile.
    "Wir Juden haben diese Erfahrung verinnerlicht. Wir sind ein Volk von Flüchtlingen. Auswanderung, Einwanderung und Umsiedlung sind nicht nur Teil des Narrativs unserer jüdischen Nation, sondern auch unserer Realität über viele Jahrhunderte bis in die Zeit nach dem Holocaust."
    Eine, die schon von Berufs wegen Netzwerke spannt, ist Audrey Galex. Sie ist Produzentin beim Fernsehsender AIB – Atlanta Interfaith Broadcasters – in der Südstaatenmetropole. Im Team von AIB arbeiten Christen, Juden und Muslime; Schwarze, Weiße und Latinos.
    Audrey Galex, Produzentin beim Fernsehsender AIB – Atlanta Interfaith Broadcasters
    Audrey Galex, Produzentin beim Fernsehsender AIB – Atlanta Interfaith Broadcasters (Deutschlandfunk/ Katja Ridderbusch)
    Es habe sie nie gestört, anders zu sein, sagt Galex. Als einziges jüdisches Mädchen auf einer katholischen Schule. Auch später, als sie in Kairo studierte, 1978, im Jahr des Camp-David-Abkommens zwischen Israel und Ägypten. Die Menschen seien ihr damals mit viel Neugier begegnet. Viele hätten noch nie zuvor einen Juden getroffen.
    Sie habe ihr Judentum stets sehr bewusst gelebt, sagt sie. Sie mag den Klang der hebräischen Sprache und erzählt von den festlichen Shabbat-Essen im Haus ihrer Großmutter:
    "She always made traditional meals and lit the Shabbat candle. This was a very important part of our weekly ritual."
    Und zugleich hat sie Freunde, die aus einer ganz anderen Welt kommen, darunter eine libanesische Christin und eine palästinensische Muslimin. Mit ihnen trifft sie sich zum Kochen, geht tanzen, diskutiert – auch über politische Fragen. Dass dabei bisweilen unterschiedliche Meinungen aufeinandertreffen, stört sie nicht.
    Der Kurs gegenüber Israel wird sich nicht ändern
    Nicht alle amerikanischen Juden denken wie Audrey Galex. Einige sehen dem Anwachsen der muslimischen Bevölkerung mit Skepsis entgehen. Rabbiner Noam Marans:
    "Unter Juden ist die Angst vor terroristischen Anschlägen besonders ausgeprägt. Weil wir verstehen, was es heißt, Opfer von Terrorismus zu werden."
    Terrorakte islamischer Extremisten in den USA – vom 11. September 2001 über das Attentat beim Boston Marathon 2013 bis zum Anschlag von San Bernardino im vergangenen Dezember schüren solche Ängste.
    Die größte Sorge vieler amerikanischer Juden betrifft jedoch Israel. Da ist die Furcht, das Anwachsen der muslimischen Bevölkerung in den USA könne einen Keil zwischen Amerika und Israel treiben.
    Die Angst sei unbegründet, sagt Kenneth Stein, Professor für die Geschichte des Nahen Ostens an der Emory-Universität in Atlanta. Ein Grund sei die demografische Realität in Amerika. Mehr als die Hälfte aller amerikanischen Muslime komme nicht aus dem Nahen Osten, sagt Stein. Tatsächlich sind ein Viertel der Muslime in den USA Afroamerikaner, die zum Islam konvertiert sind. Ein Drittel stammt aus Asien, vor allem aus Indonesien, Pakistan, Indien. Und nur ein Viertel sind eingewanderte Araber. Kenneth Stein:
    "Die Gefahr, dass sie von der politischen Lage im Nahen Osten beeinflusst werden, ist gering. Außerdem hat die Geschichte der muslimischen Einwanderung, der Einwanderung nach Amerika überhaupt, gezeigt, dass Immigranten zunächst vor allem am wirtschaftlichen Aufstieg interessiert sind, nicht an Politik."
    Und auch aus einem anderen Grund hält der Historiker die Sorge für übertrieben, Amerikas Solidarität mit Israel könnte brüchig werden.
    "Es gibt sicher viele tiefgreifende Differenzen zwischen den USA und Israel – etwa was die besetzten Gebiete oder die Siedlungspolitik betrifft. Aber es gibt keine Differenzen über das strategische Verhältnis an sich. Diesen politischen Kurs zu ändern, das wäre so, als würde man versuchen, einen Ozeankreuzer innerhalb von 20 Metern zum Stoppen zu bringen. Das funktioniert einfach nicht."
    Zumindest nicht in absehbarer Zeit, meint auch Rabbi Marans. Er warnt vor politischer Hysterie. Er will die anstehende Aufgabe aber auch nicht kleinreden.
    "Das jüdisch-muslimische Verhältnis ist für uns Juden die große interreligiöse Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Das wird nicht ohne Reibungen abgehen, eben weil das Verhältnis der Religionen durch den Nahost-Konflikt so extrem politisiert ist."
    Pragmatische Koexistenz - nicht nur bei Kaschrut und Halal
    Gerade hat das American Jewish Committee einen Direktor für Jüdisch-Muslimische Beziehungen eingestellt – ein klares Signal für die neuen Prioritäten.
    Und auch sonst stellen sich Amerikas Juden und Muslime bereits heute auf eine pragmatische Koexistenz ein. Etwa bei den jüdischen und muslimischen Speisegesetzen. Kaschrut- und Halal-Organisationen, die die Einhaltung der jeweiligen Vorschriften überwachen, arbeiten seit Jahren eng zusammen.
    Audrey Galex setzt auf ganz persönliche Kontakte. Sie sei mehrfach zu Gast beim Fastenbrechen in einer Moschee gewesen, sagt sie. In ihrem Haus veranstaltet sie jedes Jahr während des Pessach-Festes interreligiöse Seder-Abende. Eine gute Gelegenheit, einander als Menschen kennenzulernen. Ob man auch Freunde werde, stehe dann auf einem anderen Blatt.