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US-Universitäten
Krise der Geisteswissenschaften stoppen

Ein kräftiger Rückgang der Studierendenzahlen in den Geistes- und Sozialwissenschaften hat US-Universitäten aufgeschreckt. Denn Studierende wählen vermehrt Naturwissenschaften mit den vermeintlich sicheren Jobs. Mit neuen Kursangeboten und besserem Marketing soll der Rückgang gestoppt werden.

Von Klaus Martin Höfer | 14.01.2020
Das Gelände der Harvard University in Boston (USA)
Selbst an der Universität Harvard, deren Absolventen sich eigentlich keine Sorge um einen Arbeitsplatz machen müssen, geht die Anzahl von Studierenden der Geisteswissenschaften zurück (imago stock&people)
Michael McCormick lehrt seit beinahe drei Jahrzehnten Geschichte an der Harvard-Universität. Gerade hat der Professor mit dem Schwerpunkt "Ende des Römischen Reiches" etwas Neues ausprobiert, einen Dreimonatskurs mit einem ganz neuen Ansatz: Interdisziplinär, über die eigene Fachgrenzen hinaus, ein Geschichtskurs, bei dem es auch um Genetik und um Töpferei geht.
"In dem Kurs zeigen wir, welche technologische und methodische Revolution und welche neuen Fragestellungen es in den Naturwissenschaften gibt, mit denen völlig unerwartet vollkommen neue Aspekte der menschlichen Vergangenheit erhellt werden. Zum Beispiel werden Umweltaspekte, Klimawandel und solche Dinge jetzt nachgewiesen, dank dieser neuen naturwissenschaftlichen Methoden."
Verluste von bis zu 50 Prozent in den Geisteswissenschaften
Nicht nur Geschichts-Fakultäten leiden unter Studentenschwund. In den vergangenen zehn Jahren hat sich in den USA die Zahl der Literatur- und Sprachstudenten im Hauptfach um ein Drittel verringert, ebenso die der Philosophiestudenten. Religion sank um 43 Prozent, Englisch sogar um die Hälfte.
Geschichtsprofessorin Lisa McGirr koordiniert an der Harvard-Universität die Bachelor-Studienangebote. Den Bruch bei den Geisteswissenschaften sieht sie in der Rezession Ende der Nuller Jahre.
"Ich denke, die Wirtschaftskrise hat ganz klar einen dramatischen Schnitt ausgelöst. Studenten wollen nun etwas Praktisches oder Pragmatisches studieren. Ein Abschluss, der ihnen zu einem Beruf verhilft. Das war eine richtige Verschiebung."
Universitäten reagieren mit verbesserten Angeboten
Ingenieurwissenschaften, Informatik und Mathematik erleben seitdem einen Boom, versprechen sie doch vielen Studenten gute Jobs – eine Studienwahl, die auch die Eltern beruhigt. Harvard, eine Universität, deren Absolventen sich eigentlich keine Sorge um einen Arbeitsplatz machen müssen, hat darauf mit Grundlagenkursen reagiert wie dem von Professor McCormick. Zusätzlich hat Koordinatorin Lisa McGirr so genannte "Career Cluster" zusammengestellt, Empfehlungen für Seminare, die auf unterschiedliche Berufsfelder vorbereiten.
"Wir haben diese Kurse nicht geändert, aber wir sagen, diese Kurse zusammen mit Kursen anderer Fakultäten sind ein Einstieg in Business und Consulting, in Rechtswissenschaften oder auch in Internationale Beziehungen und Regierungshandeln."
Die Vorzüge der Geisteswissenschaften besser verkaufen
Andere Hochschulen haben ebenfalls ihre geisteswissenschaftliche Kurse überarbeitet und binden Aspekte aus vermeintlich für die Studenten lebensnäheren und karriererelevanteren Bereichen ein. Zum Beispiel, indem Studenten ein Videospiel auf der Grundlage von Dantes "Inferno" entwerfen, in den Literaturwissenschaften geschaut wird, wie Romanautoren in unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten Geld und Geschäftemachen thematisieren und problematisieren. Lisa McGirr ist überzeugt, dass die speziellen Harvard-Kurse nicht nur Fachwissen vermitteln, sondern Tugenden und Fähigkeiten, die fürs Berufsleben wichtig sind:
"Wir bereiten sie darauf vor, gut zu kommunizieren, ihre Argumente zu ordnen, Nachweise auseinanderzunehmen und wieder zusammenzustellen, sozusagen mit Bruchstücken an Wissen zu arbeiten, Argumente, Interpretationen und Analysen zu erstellen. Diese Fähigkeiten braucht man am Arbeitsplatz. Ich denke, Studenten müssen das nur besser verstehen."