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36 Mal Fremdenliebe

Synagogen und Kirchen gewähren illegalen Einwanderern Asyl und versuchen, sie vor der Abschiebung zu bewahren. Diese Sanctuary Alliance gab es schon einmal in den 80er-Jahren. Nun - nach einem Jahr Trump - erlebt sie ein Comeback

Von Andreas Robertz | 16.01.2018
    Ein Opfer der Trump-Agenda: Unterstützungsaktion für den Aktivisten Ravi Ragbir, Vorsitzender der "New Sanctuary Coalition", der am 11.01.2018 in Abschiebehaft kam.
    Ein Opfer der Trump-Agenda: Unterstützungsaktion für den Aktivisten Ravi Ragbir, Vorsitzender der "New Sanctuary Coalition", der am 11.01.2018 in Abschiebehaft kam. (AFP / Laura Bonilla)
    Noch wird gehämmert und gestrichen, aber schon in zwei Wochen soll die 40-Quadratmeter-Wohnung mit zwei Zimmern, Bad und kleiner Küchenzeile fertig sein. Eine Einzelperson oder kleine Familie kann hier gut Platz finden - und Schutz vor der drohenden Abschiebung. Die Wohnung befindet sich auf dem Gelände der Bnai Keshet Synagoge mitten in Montclair, New Jersey, ein knapp 40.000 Einwohner Städtchen, keine 40 Bahnminuten von Manhattan entfernt. Freiwillige Helfer der frisch gegründeten Montclair Sanctuary Alliance renovieren hier am Wochenende. Zusammen mit der First Congregational Church und der Unitarian Universalist Congregation aus Montclair, zwei christlichen Gemeinden, will die Alliance ein Zeichen für ein anderes Amerika setzen und sich für illegale Einwanderer engagieren.
    Gegenmittel zur Trump-Propaganda
    Rabbi Elliott Tepperman spricht von einem Gegenmittel zu der ausländerfeindlichen Rhetorik aus Washington:
    "Wir haben hier keine Illusionen. Vielleicht können wir einer Person oder einer Familie Schutz bieten, das wird aber nicht die Politik in den USA verändern. Aber vielleicht ändert es die Haltung der Menschen, wenn sie die Liebe sehen, wenn verschiedenen Glaubensgemeinschaften sich zusammentun und für das Richtige aufstehen. Das ist ein Gegenmittel zu der Propaganda der jetzigen Regierung."
    Die Hoffnung ist, dass sich die Beamten des ICE, der amerikanischen Einwanderungsbehörde, an die Vorgaben der Vergangenheit halten und kein Gotteshaus stürmen, auch wenn sie dies jederzeit mit einem Durchsuchungsbefehl tun könnten.
    Rabbi Teppermann sagt: "So lange jemand auf dem Gebiet der Synagoge bleibt und diese Verordnung Gültigkeit hat, kann eine Verhaftung vermieden werden. Die Verordnung existiert, weil die Behörde weiß, dass es sonst eine wirklich schlechte Publicity geben würde. Wir hoffen, dass das so bleibt."
    Donald Trump hat sich bisher nicht als Freund verabredeter Regeln gezeigt. Seit seiner Amtsübernahme wurden schätzungsweise 160.000 Personen, die ohne Aufenthaltserlaubnis in den USA lebten, inhaftiert. Die meisten von ihnen warten oft monatelang in "Detention Centers" - zu Gefängnissen umgebaute Lagerhallen - auf ihre Abschiebung. Präsident Obama hatte zwar in seinem ersten Jahr mindestens ebenso viele Verhaftungen und Abschiebungen durchführen lassen, doch er initiierte gleichzeitig Amnestie-Programme für Jugendliche und konzentrierte die Verhaftungen auf illegale Grenzüberschreitungen und kriminell gewordene Menschen.
    Zerstörte Strukturen und ökonomische Realitäten
    Die Trump-Regierung hat es auf alle illegalen Einwanderer abgesehen. Viele der Betroffenen wurden jahrelang in den USA befristet geduldet, zahlten Steuern, bauten sich ein Leben auf und gründeten Familien. Oft wird ihre Aufenthaltsgenehmigung plötzlich nicht verlängert, was sie nach einer 24-Stunden-Frist automatisch zu Illegalen macht. In vielen Fällen sind nur Teile einer Familie illegal, weil die Kinder auf amerikanischen Boden geboren wurden und Staatsbürger sind. Pastor Ann Ralosky von der First Congregational Church erklärt, warum dies besonders verheerend ist:
    "Da sind Menschen, die von diesen abhängig sind. Sie einfach von ihrer Nachbarschaft und ihrem Familienleben zu entfernen und auf ungewisse Zeit in dieser Form zu inhaftieren, zerstört im Grunde die Struktur von Gemeinschaft und Familie."
    Die Erfahrung der Familie Jesu, gleich nach der Geburt nach Ägypten fliehen zu müssen und dort freundliche Aufnahme gefunden zu haben, gehört für sie zu den Grunderfahrungen des jungen Christentums. Die bei Politikern und den Medien beliebte Unterscheidung zwischen politischen und wirtschaftlichen Flüchtlingen hält sie für blanken Zynismus:
    Pastorin Ralosky: "Es gibt das Anheben von Lebensstandards und es gibt das Überleben, beides sind ökonomische Realitäten und ich glaube, die große Mehrheit der Einwanderer, die keine Dokumente haben und besonders über unsere südliche Grenze kommen, nicht einfach versucht ihre Lebensqualität ein bisschen nach obenhin zu korrigieren, sondern sie versucht, wirtschaftlich zu überleben."
    Rabbi Elliott Tepperman: "Wir sollten uns fragen, warum wir in einer Welt leben, in der Informationen ohne Bedenken Grenzen passieren, globale Konzerne in jedem Land ihrer Wahl Geschäfte machen können, wir immer versuchen, den Austausch der Güter weitgehend zu erleichtern, nur Menschen, die dürfen sich nicht frei bewegen."
    Hebräer bedeutet Grenzgänger
    Für Rabbi Elliott berührt die Frage des Umgangs mit illegalen Einwanderern den Kern des jüdischen Glaubens, der geschichtlichen Erfahrung der Juden und seine eigene Familiengeschichte. Sein Großvater und dessen Schwester mussten als Jugendliche eine Gruppe von Schleusern anheuern, um den Pogromen in Russland zu entkommen. Sie flohen in die USA.
    "In der Geschichte der Juden mussten wir pausenlos Grenzen überschreiten, weil wir keine andere Wahl hatten, immer auf der Suche nach einem sicheren Ort", erklärt Rabbi Elliott". "Wir kennen die Unsicherheit, keinen vollen legalen Status zu haben und als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden."
    Die amerikanische "Sanctuary"-Bewegung hat ihren Ursprung in den 1980er-Jahren, als jüdische und christliche Gemeinschaften begannen, ihre Gotteshäuser zu sicheren Häfen zu erklären und mit Aktionen des zivilen Ungehorsams der brutalen Deportationspolitik der Reagan-Ära trotzten. Unter der "America-First-Agenda" von Donald Trump tun sich jetzt wieder überall im Land zivile wie religiöse Institutionen zusammen und lassen die Tradition des zivilen Ungehorsams und der "Sanctuary"-Bewegung aufleben.
    Für Rabbi Elliott markiert der Umgang mit dem Fremden, Zugewanderten - ob illegal oder nicht - vor allen Dingen eine zutiefst spirituelle Wahrheit:
    "Die Bibel sagt uns einmal, dass wir unseren Nachbarn lieben sollen, zweimal, dass wir Gott lieben sollen, und 36 Mal, dass wir den Fremden lieben sollen. Da scheint es mir sicher zu behaupten, die Bibel sei besessen von dem Fremden. Wir sollten diese Botschaft ernst nehmen. Ob wir nun die Gebote ansehen, oder die Erfahrung Abrahams, oder die Tatsache, dass Hebräer Grenzgänger bedeutet, unsere religiöse Tradition weist darauf hin, dass in dem Vertraut-Machen mit dem Fremden etwas Spirituelles gelernt werden soll."