Dienstag, 23. April 2024

Archiv

USA-Experte über Afghanistan
"Nation-Building hat von Anfang an nicht funktioniert"

Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan erinnere an das Ende des Vietnamkriegs, sagte der USA-Experte Rüdiger Lentz im Dlf. Dass ein erfahrener Außenpolitiker wie Joe Biden einen so überstürzten Abzug der US-Truppen exekutiere, mache fassungslos. Das Versagen des Westens habe aber bereits früher begonnen.

Rüdiger Lentz im Gespräch mit Christoph Heinemann | 16.08.2021
Taliban patrouillieren in der afghanischen Hauptstadt Kabul
Taliban patrouillieren in der afghanischen Hauptstadt Kabul (picture alliance / AA | Sayed Khodaiberdi Sadat)
In Afghanistan haben die Taliban die Macht übernommen. Kabul befindet sich in den Händen der Islamisten. Der afghanische Präsident ist aus seinem Land geflohen. Westliche Staaten versuchen nun, die eigenen Landsleute aus Afghanistan zu bringen. Unklar ist weiterhin, was aus den Ortskräften und ihren Familien wird, die für die Bundeswehr gearbeitet haben.
Rolf Mützenich, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion,
Afghanistan - Mützenich (SPD): Aufarbeitung im Parlament soll stattfinden
Niemand habe damit gerechnet, "dass die Kapitulation eines großen Teils der afghanischen Regierung so schnell stattfindet", sagte der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich im Dlf. Das Parlament werde aber aufarbeiten, ob eine Entwicklung verpasst wurde.

"Schmachvoller Abzug einer geschlagenen Armee"

Angesichts dieses Szenarios dränge sich ein Vergleich zwischen dem Ende des Afghanistan-Einsatzes und dem Ende des Vietnamkriegs geradezu auf, sagte der USA-Experte Rüdiger Lentz im Deutschlandfunk über den Einmarsch der Taliban in Kabul. Die Bilder wiederholten sich: Es sei der schmachvolle Abzug einer geschlagenen Armee und einer geschlagenen Nation, so der ehemaliger Direktor des Aspen-Instituts in Berlin. Dies werde den USA lange nachhängen.
Dass Joe Biden, als einer der erfahrensten amerikanischen Außenpolitiker, die Politik seines Vorgängers des überstürzten Abzuges nicht nur fortgesetzt, sondern auch exekutiert habe, mache fassungslos. Die amerikanische Glaubwürdigkeit auch in die Geheimdienste, auch in die militärische Stabilität, auch in die Versprechen, die sie gegenüber der afghanischen Bevölkerung abgegeben haben, habe enorm gelitten, so Lentz: "Und man darf nur hoffen, dass dieser außenpolitische Schaden auch in die Führungsmacht Amerikas möglichst schnell begrenzt und eingegrenzt werden kann."

"Westliches Nation-Building war ein Fehler"

Das Versagen habe aber bereits viel früher begonnen: "Wir haben uns alle im Westen etwas vorgemacht, weil wir glaubten, wir könnten dieses Land am Hindukusch stabilisieren, ihm eine politisch westliche Demokratie verpassen. Dieses sogenannte Nation-Building hat von Anfang an nicht funktioniert", so Lentz. "Man hat versucht, eine Armee mit 300.000 Soldaten aufzubauen, die jetzt quasi kampflos aufgegeben haben. Dieser Staat hat quasi als Staat nie existiert und insofern war das Konzept des westlichen 'Nation-Building' ein Fehler."

Das Interview im Wortlaut:
Christoph Heinemann: Herr Lentz, überstürzter Abzug nach einem langen Einsatz. Inwiefern kann man das Ende des Afghanistan-Einsatzes mit dem Abzug nach dem Vietnam-Krieg vergleichen?
Rüdiger Lentz: Ein Vergleich drängt sich gerade auf. Wer die Bilder von damals in Erinnerung hat – ich war damals ein sehr junger Offizier bei der Bundeswehr und mich hat der schmachvolle Abzug der Amerikaner aus Saigon damals sehr persönlich angepackt. Das waren die Hubschrauber, die aus dem Botschaftsgelände aufstiegen. Das waren die Bediensteten, die dort noch in den letzten Minuten Dokumente geschreddert haben, und diese Bilder wiederholen sich zurzeit und haben sich gestern wiederholt. Es ist der schmachvolle Abzug einer geschlagenen Armee und einer geschlagenen Nation und dies wird Amerika lange nachhängen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass es damals Jahrzehnte gedauert hat, bis Amerika das Trauma des Vietnam-Krieges überwunden hat, und jetzt stehen sie vor einem neuen Desaster und einem neuen Trauma.
Taliban-Kämpfer in der afghanischen Stadt Kandahar am 13. August 2021 
Afghanistan - Diese Strategie verfolgen die Taliban
In Afghanistan haben die Taliban die Macht übernommen und Präsident Ghani hat das Land verlassen. Ihre überraschend schnellen militärischen Erfolge sind auch auf Fehler des Westens zurückzuführen. Wie organisieren sich die Taliban und was kommt nun auf die afghanische Bevölkerung zu?
Heinemann: Wieso hat sich Joe Biden zu diesem hastigen Truppenabzug entschieden?
Lentz: Die Frage stellen wir uns alle. Der Experte für Außenpolitik, einer der erfahrensten amerikanischen Außenpolitiker, ein ausgesprochen moderater und kenntnisreicher Mann, was Weltpolitik und Geostrategie angeht, hat die Politik seines Vorgängers des überstürzten Abzuges nicht nur fortgesetzt, sondern auch exekutiert, und das fällt ihm geradezu auf die Füße. Und das größte Problem wird er noch haben bei den Midterm Elections im nächsten Jahr, wo ihm das als größtes außenpolitisches Desaster vorgehalten werden wird. Insofern stehen wir alle fassungslos davor, wie dieser Mann dieses so hat exekutieren können. Allerdings muss man einschränkend sagen, er hat sich dabei immer auf 70 Prozent der amerikanischen Bevölkerung berufen, die diesen Abzug wollten und den Trump eingeleitet hat.

"Dieser Staat hat als Staat nie existiert"

Heinemann: Hat somit der frühere Außenminister Mike Pompeo recht, der der Biden-Regierung jetzt Versagen vorgeworfen hat?
Lentz: Das Versagen hat ja viel früher begonnen. Wir haben uns alle im Westen etwas Falsches vorgemacht, weil wir glaubten, wir könnten dieses Land am Hindukusch stabilisieren, ihm eine politisch westliche Demokratie verpassen. Dieses sogenannte Nation Building hat eigentlich von Anfang an nicht funktioniert. Dieser Staat hing immer von Hilfsleistungen ab, von wirtschaftlichen Leistungen, die von außen kamen, und hat versucht, eine Armee aufzubauen mit 300.000 Soldaten, die jetzt quasi kampflos aufgegeben haben. Dieser Staat hat quasi als Staat nie existiert und insofern war das Konzept des westlichen Nation Building ein Fehler.

"Kultur dieses Landes falsch eingeschätzt"

Heinemann: Diese Armee hat den Taliban das Land jetzt nahezu kampflos übergeben. Was wurde bei der Ausbildung versäumt?
Lentz: Ich glaube, es war nicht die Ausbildung und nicht die Ausrüstung. Ich glaube, dass wir immer die Kultur dieses Landes falsch eingeschätzt haben. Ich war in den 80er-Jahren dort mehrere Wochen unterwegs, als noch die russische Besetzung dort existierte. Mich hat damals schon sehr interessiert der Unterschied zwischen Stadt und Land, der Unterschied zwischen einer westlich orientierten, sehr kleinen Elite, die in Kabul existierte und auch in einigen größeren Provinzstädten. Und darüber hinaus war es fast mittelalterlich, diese feudalen Stammesstrukturen, die es bis heute ja gibt. Wir sehen das auch jetzt wieder, wie die Leute dort umgehängt mit Waffen und Turbanen in die Stadt einmarschieren. Das ist das alte Afghanistan, mit dem wir im Westen, glaube ich, nie so richtig klarkamen, das wir nie so richtig verstanden haben. Übrigens geht das zurück bis auf die britischen Niederlagen, die die dort im 19. Jahrhundert erlitten haben.

"20 Jahre kein Hort des Terrorismus"

Heinemann: Ein Ziel des Afghanistan-Einsatzes war es zu verhindern, dass das Lande, dass Afghanistan eine Drehscheibe des internationalen Terrorismus bleiben oder wieder werden könnte. Können die USA und ihre Verbündeten das nach dem Abzug in irgendeiner Weise sicherstellen?
Lentz: Nein, das können sie nicht. Aber zumindest für die 20 Jahre, in denen der Westen dort stationiert war, ist dies ja sichergestellt worden, wenn auch zu einem ungeheuren Preis unter ungeheurem Material und Einsatz von Opfern. Aber 20 Jahre war dort das El-Kaida-Land kein Hort des Terrorismus und von dort aus wurde kein Terrorismus in den Westen exportiert. Aber jetzt ist es natürlich mit dieser Waffenausrüstung, die die Taliban übernommen haben, völlig ungewiss, was daraus entstehen wird – neben den Flüchtlingsströmen, mit denen wir sicherlich rechnen müssen.
Afghanische Sicherheitskräfte in Kabul
Die Taliban in Kabul - Deutlicher kann eine Niederlage nicht sein
Fassungslos verfolgt der Westen den raschen Vormarsch der Taliban in Afghanistan. Die Lage ist dramatisch. Deutsche Staatsbürger und schutzbedürftige Ortskräfte müssen nun sofort in Sicherheit gebracht werden, so Klaus Remme. Die Bundesregierung habe viel zu spät reagiert.
Heinemann: Wie würden die US-Regierungen oder die amtierende Regierung reagieren, sollten von Afghanistan aus wieder Ziele in den USA angegriffen werden?
Lentz: Dann stellt sich für uns alle die Frage, wie man dem militärisch begegnen kann. Und wir alle wissen, dass Terroreinheiten – und wir haben das beim IS gesehen – eigentlich nur mit Boots on the Ground, mit Soldaten auf dem Boden verhindert beziehungsweise eingegrenzt werden können, und daran ist im Moment nicht zu denken in dieser volatilen Situation. Sehr viele Optionen hat der Westen nicht. Er muss im Grunde genommen versuchen, die Nachbarstaaten so zu stabilisieren – und dazu gehört der für uns außerordentlich schwierige Partner Iran –, dass von dort aus keine Gefahr ausgeht und von dort aus nicht Taliban ihre Terrorexporte in den Westen versuchen durchzuschleusen.

"Chaos managen um zu evakuieren"

Heinemann: Wie genau stellt sich die US-Regierung die weitere Entwicklung in Afghanistan und in der Region vor?
Lentz: Das würde man gerne in den nächsten Tagen aus Washington hören. Zunächst mal geht es darum, das Chaos zumindest so zu managen, dass die noch verbleibenden westlichen Bürger – und es sind ja viele Leute dort auch noch von Hilfsorganisationen, nicht zu schweigen von den vielen Leuten, die uns als Ortskräfte geholfen haben –, wie man die zumindest noch teilweise evakuieren kann. Und selbst das scheint ja ungewiss, denn das Flugzeug, was sich augenblicklich von Deutschland aus dorthin auf dem Weg befindet, weiß ja noch nicht mal, ob es in Kabul sicher landen kann.
Trauerfeier für den indischen Fotojournalisten Danish Siddiqui, der von den Taliban in Kandahar getötet wurde.
Bedrohte Medienschaffende in Afghanistan - "Die Bundesregierung hat sich die Lage schöngeredet"
Durch ein VISA-Notprogramm sollen afghanische Mitarbeiter deutscher Medienhäuser geschützt werden. Das fordert ein Offener Brief an die Bundesregierung. Berlin habe die Lage falsch eingeschätzt, kritisiert Christian Mihr von Reporter ohne Grenzen.

"Amerikanische Glaubwürdigkeit hat enorm gelitten"

Heinemann: Nach Donald Trump wollte Joe Biden ein international zuverlässiger Präsident sein. Inwiefern ist er das mit Blick auf seine Afghanistan-Politik?
Lentz: Die Frage stellen sich jetzt alle Verbündeten und ich glaube, die Frage muss Joe Biden in den nächsten Tagen beantworten. Ob er sie beantworten kann, steht in den Sternen, denn natürlich hat die amerikanische Glaubwürdigkeit auch in die Geheimdienste, auch in die militärische Stabilität, auch in die Versprechen, die sie gegenüber der afghanischen Bevölkerung abgegeben haben, enorm gelitten. Und man darf nur hoffen, dass dieser außenpolitische Schaden auch in die Führungsmacht Amerikas möglichst schnell begrenzt und eingegrenzt werden kann.
Heinemann: Kann er von dem außenpolitischen Schaden denn wenigstens innenpolitisch Nutzen ziehen?
Lentz: Ich würde sagen, auf keinen Fall, denn bei den Midterm Elections, die im September nächsten Jahres anstehen, werden die Republikaner ihm dieses schlechte Management des Abzuges, den die Republikaner zwar auch wollten, der aber jetzt, weil er schlecht gemanagt war und zeitlich jetzt in seine Amtszeit fällt, den werden sie ihm vorhalten und das wird eines der zentralen Wahlkampfthemen sein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.