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Valeria Luiselli
Die mexikanische Flaneurin

Valeria Luiselli ist eine unaufgeregte Beobachterin und eine leidenschaftliche Leserin. In ihrem Essayband "Falsche Papiere" verbindet die 1983 in Mexiko geborene Autorin Erkundungen von Metropolen wie Venedig, New York oder Mexiko-Stadt mit Streifzügen durch ihr Bücherregal.

Von Wera Reusch | 27.06.2014
    Bücherstapel
    Ob durch Mexiko-City oder durchs eigene Bücherregal: Valeria Luiselli ist eine Flaneurin mit dem Blick für das Besondere. (picture-alliance / dpa / Romain Fellens)
    Valeria Luiselli ist eine Flaneurin. In ihrem Essayband "Falsche Papiere" verbindet sie Erkundungen von Metropolen wie Venedig, New York oder Mexiko-Stadt mit Streifzügen durch ihr Bücherregal. Zum Auftakt begleiten wir die junge mexikanische Autorin auf der Suche nach dem Grab des russischen Dichters Joseph Brodsky, der auf Venedigs Friedhofsinsel San Michele begraben ist. Da es dort keinen Plan gibt, der die prominenten Grabstätten verzeichnet, spaziert Luiselli ziellos über den Friedhof, bis sie begreift, dass hier eine spezielle Ordnung herrscht:
    "Die Gräber der ausländischen Prominenz des Friedhofs befinden sich nicht nur in einem von den Venezianern abgegrenzten Bereich (nicht, dass sich am Ende ein beliebiger Gondoliere zu Strawinskis Frau legt), auch zwischen den Fremdländischen gibt es eine Aufteilung. Die Russen, die Venedig regelmäßig besuchten, liegen auf der einen, die Übrigen auf der anderen Seite. Seltsam und ironisch ist es, dass Joseph Brodsky weder bei der Moskauer noch bei der Leningrader Intelligenzija ruht, sondern in einem völlig anderen Bereich, an der Seite seines Erzfeindes Ezra Pound."
    Schon auf den ersten Seiten zeigt sich Valeria Luiselli als äußerst belesene Autorin, die in ständigem Dialog mit den von ihr verehrten Schriftstellern zu stehen scheint. Während sie ihre stundenlange Suche nach dem Grab von Joseph Brodsky schildert, schweift sie immer wieder ab, und das Nachdenken über den russischen Exil-Dichter führt sie zu kühnen Vergleichen:
    "Ein Grab auf einem Friedhof zu suchen ist wie die Suche nach einem unbekannten Gesicht in einer Menschenmenge. Beides generiert in uns dieselbe Art zu sehen und zu sein: Aus einer bestimmten Entfernung könnte jede Person diejenige sein, die uns erwartet; jedes Grab dasjenige, welches wir suchen. Um auf die eine oder das andere zu stoßen, sollte man gemächlich zwischen den Menschen und den Mausoleen umherschlendern und mit aller Geduld auf diese Begegnung warten; man muss sich langsam nähern und jeden Grabstein oder jeden Gesichtszug erforschen. ( ... ) Um das Grab mit der gesuchten Inschrift zu finden, muss man die Äderchen im Marmor sehr sorgfältig untersuchen."
    Unaufgeregte Beobachtungen
    Das einleitende Kapitel über Joseph Brodsky macht das Vorgehen der Autorin exemplarisch deutlich. Valeria Luiselli ist eine unaufgeregte Beobachterin, die ihre Eindrücke mit Lektüre-Erfahrungen rückkoppelt und daraus originelle Gedankenspiele entwickelt. Die Ausgangspunkte der zehn Essays sind dabei völlig unterschiedlich: So lässt der Anflug auf Mexiko-Stadt Luiselli über Landkarten nachdenken. Sie stößt dabei auf ein Institut, in dem alte Karten aufbewahrt und restauriert werden. Und ein Bild alter Männer, die sich über eine Landkarte beugen, erinnert sie an ein Gemälde Rembrandts, auf dem Pathologen zu sehen sind, die eine Leiche sezieren.
    In einem anderen Kapitel fährt die Autorin mit dem Fahrrad durch die mexikanische Hauptstadt. Denn im Gegensatz zu Walter Benjamin und Robert Walser, die den Spaziergang bevorzugten, hält Luiselli das Radfahren für die angemessene Fortbewegungsart einer Flaneurin – zumindest in Mexiko-Stadt:
    "Der Fußgänger hat sich im Distrito Federal im Rhythmus der Stadt zu bewegen, und zwar so zielgerichtet wie die anderen Passanten. Jede Modulation des Schrittes macht ihn zur Zielscheibe eines Verdachts. Wer zu langsam geht, könnte ein Verbrechen planen oder sich verirrt haben. Wer nicht im Sportoutfit rennt, könnte auf der Flucht vor der Justiz sein oder irgendeinen skandalösen Grund zur Eile haben und damit alle Aufmerksamkeit verdienen.
    Das Fahrrad ist auf halbem Weg zwischen dem Automobil und dem Schuh angesiedelt; seine leichte Schnelligkeit erlaubt demjenigen, der es fährt, die fußgängigen Blicke hinter sich zu lassen und von den motorisierten Blicken hinter sich gelassen zu werden. So ist dem Radler eine außerordentliche Freiheit gegeben: die der Unsichtbarkeit."
    Abseitige Recherchen
    Die zehn Essays lassen sich nur schwer auf einen Nenner bringen - sie handeln im weitesten Sinne von städtischen Räumen und von den Räumen, die Sprache und Literatur eröffnen. Zu den Höhepunkten des Bandes zählen zweifellos die etwas abseitigen Recherchen, etwa wenn die spanischsprachige Autorin über den portugiesischen Begriff der "Saudade" nachdenkt und dessen Bedeutungsfeld zwischen Nostalgie, Heimweh und Melancholie auslotet. Oder wenn sie sich mit ungeplanten, sozusagen "übrig gebliebenen" Ecken in Mexiko-Stadt beschäftigt. Auf einer dieser Brachflächen an der Stadtautobahn pflanzte Luisellis Vater einst drei Palmen für seine drei Töchter.
    Obwohl persönliche Erlebnisse den Ausgangspunkt der Essays bilden, erfahren wir in den Texten weniger über das Leben der Autorin, als die Ich-Perspektive vermuten ließe. Klar wird jedoch, dass wir eine weltläufige junge Frau vor uns haben, die in New York studiert hat, Europa gut kennt und ein besonderes Verhältnis zu Mexiko pflegt:
    "Auch wenn meine Familie und ich fast nie einen festen Wohnsitz in Mexiko hatten und dank eines lombardischen 'nonnos' die italienische Staatsbürgerschaft besitzen, wusste ich immer, dass Mexiko mein Land ist – weniger aus einem reinen Glaubensakt, sondern eher aus einer Art geistigen Trägheit heraus.
    Seit ich ein kleines Mädchen war, nahm ich das komplette Paket der 'Mexikanität' so selbstverständlich hin, wie viele den christlichen Glauben hinnehmen, den Islam oder den Grießbrei."
    Um die Frage von Identität und Papieren geht es vor allem im letzten Kapitel, das uns nach Venedig zurückführt. In einer aberwitzigen Episode wird die Autorin innerhalb weniger Stunden zur Bürgerin der Stadt – und zwar aufgrund einer Blasenentzündung. Valeria Luisellis Essays sind überaus originell und klug – manchmal etwas bildungsbeflissen, wenn sie allzu oft ihre Lieblingsautoren zitiert. Doch selbst Leser, die nicht allen Querverweisen im Einzelnen folgen wollen, werden an den realen und intellektuellen Spaziergängen der mexikanischen Flaneurin großes Vergnügen finden.
    Valeria Luiselli: "Falsche Papiere". Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz und Nora Haller. Verlag Antje Kunstmann, München 2014, 125 Seiten, 16,95 Euro.