Freitag, 19. April 2024

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Van Aken zum Giftgas-Streit
"Außenpolitisches Gewinnspiel"

Nach dem Giftanschlag auf den Ex-Doppelagenten eskaliert der Streit zwischen London und Moskau: Beide Seiten hätten Interesse an einer verbalen Eskalation, sagte der ehemalige Linken-Außenpolitiker Jan van Aken im Dlf - Theresa May sei innenpolitisch geschwächt und Putin stehe kurz vor der Wahl.

Christiane Kaess im Gespräch mit Jan van Aken | 15.03.2018
    Jan van Aken, außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke, aufgenommen am 09.04.2017 während der ARD-Talksendung "Anne Will".
    Der Linken-Politiker Jan van Aken sagt, sowohl Briten als auch Russen machen im Giftgas-Streit einiges falsch. Die Chemiewaffen-Konvention hätten für solche Fälle ein Prozedere, was zu tun sei. (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
    Christiane Kaess: Mitgehört hat Jan van Aken, Außenpolitiker der Linken, ehemals Abgeordneter des Bundestages und ehemals Biowaffen-Inspekteur der Vereinten Nationen. Guten Tag, Herr van Aken.
    Jan van Aken: Einen schönen guten Tag.
    Kaess: Das erste Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges, dass Nervengift in Europa eingesetzt wird, haben wir gerade gehört in dem Beitrag, und das klang ziemlich alarmiert. Sind Sie das auch?
    van Aken: Ja, das bin ich auch. Es ist, glaube ich, tatsächlich das zweite Mal. 1978 gab es in London schon mal, ich glaube, vom bulgarischen Geheimdienst einen Mord mit Rizin. Aber jetzt dieses Nowichok, dieses Nervengift, das ist schon alarmierend, und ich finde es auch ganz, ganz wichtig, dass da jetzt die Täter ermittelt werden, denn mit solchen Morden, mit solchen Anschlägen, mit so einem Einsatz von Chemiewaffen darf niemand davon kommen.
    "Für solche Fälle gibt es die Chemiewaffen-Konvention"
    Kaess: Jetzt lautet der Vorwurf aus Moskau, Großbritannien hätte Russland immer noch keine konkreten Informationen über den Fall Skripal übermittelt. Die Regierung in Moskau, die will das aber. Die will alle verfügbaren Materialien haben, die möchte Zugang zu Proben von dem chemischen Stoff haben. Sind das berechtigte Forderungen, denen London eigentlich nachkommen müsste?
    van Aken: Jein. Ich glaube, hier machen sowohl die Briten als auch die Russen einiges falsch, denn genau für solche Fälle gibt es ja die Chemiewaffen-Konvention und in der Chemiewaffen-Konvention ist genau für solche Vorwürfe und Verdächtigungen ein Prozedere vorgeschlagen. Das ist da in Artikel neun, Absatz zwei ganz klar festgelegt, dass wenn ein Land solche Anschuldigungen erhebt, dass dann das beschuldigte Land zehn Tage Zeit hat, darauf zu antworten, und dass natürlich auch die Verdächtigungen konkretisiert werden müssen. Das heißt, es ist schon richtig, dass die Engländer mehr auf den Tisch legen müssen als nur dieses ganz simple "wir wissen, die Russen haben das vor 40 Jahren mal entwickelt; deswegen seid ihr heute schuldig." Das reicht nicht aus. Ansonsten ist es aber ein richtiger Schritt der Engländer, jetzt Proben dieses Giftes, was sie wohl gefunden haben, an die Organisation zum Verbot von Chemiewaffen, der OPCW zu übergeben. Die müssen das analysieren und dann müssen die Russen tatsächlich innerhalb von zehn Tagen darauf antworten. Wenn das am Ende nicht zu einer Lösung des Konfliktes führt, dann ist es die Möglichkeit, dass innerhalb der Chemiewaffen-Konvention eine technische Gruppe eingerichtet wird, die das unabhängig untersucht.
    "Was gibt es für Verunreinigungen in dem Stoff"
    Kaess: Da haben Sie jetzt zwei Wege angesprochen: Einmal diese internationale Organisation und einmal dann London selbst. Da sagen Sie, die müssten eigentlich noch mehr vorlegen. Warum, glauben Sie denn, tut London das nicht?
    van Aken: Das ist meine große Frage, denn bis jetzt sagt Theresa May ja tatsächlich nur, wir wissen, die Russen haben das mal entwickelt, wir wissen, die Russen haben ein Motiv, deswegen sind sie schuldig. Aber mit dieser Argumentation müsste man eigentlich bei jedem Sarin-Angriff in Syrien im Moment auch die Deutschen verdächtigen, denn das waren Deutsche, die Sarin entwickelt haben. Das ist ein bisschen dünn. Und ich bin mir relativ sicher: Wenn die tatsächlich so viele Proben haben, dass sie auch an die OPCW davon was weitergeben können, dann müssten die in der Lage sein, in Großbritannien einen sogenannten chemischen Fingerabdruck zu nehmen, das heißt zu gucken, was gibt es für Verunreinigungen in dem Stoff. Daraus könnte man schließen, wo ist das vielleicht hergestellt worden, und solche Daten muss England veröffentlichen. Das ist auch keine sensible Geheimdienstinformation. Das kann man und muss man öffentlich machen.
    "Anders herum spielt das Putin natürlich auch in die Hände"
    Kaess: Jetzt muss ich noch mal nach einer reinen Vermutung fragen. Was glauben Sie, warum London das nicht tut?
    van Aken: Ich weiß es nicht. Ich glaube, im Moment ist das ein außenpolitisches Gewinnspiel für Theresa May. Die ist ja innenpolitisch so wahnsinnig geschwächt. Da kommt ihr natürlich jetzt ein ganz hoch eskalierter internationaler Konflikt gerade recht. Genauso wie anders herum das Putin natürlich auch in die Hände spielt, jetzt diese Eskalation, ein paar Tage vor der Wahl. Das schweißt natürlich innenpolitisch auch in Russland alles zusammen. Ich glaube, da haben beide Seiten gerade Interesse irgendwie an einer verbalen Eskalation, und das lässt sich gar nicht mehr logisch und nicht mehr mit Aufklärungsinteresse allein begründen. Dann würde man ganz anders vorgehen.
    "Chemiewaffen-Inspekteure müssten unabhängig untersuchen"
    Kaess: Um nachzuweisen, dass das Gift aus Russland kommt, welche Beweise müsste denn London haben? Wie könnte man das überhaupt nachvollziehen?
    van Aken: Es gibt möglicherweise den sogenannten chemischen Fingerabdruck. Das heißt, diese Chemikalien werden immer ein bisschen verunreinigt im Produktionsprozess und da kann man bei anderen Chemiewaffen, zum Beispiel beim Sarin doch relativ genau sagen, wenn ich eine Probe habe, sehr wahrscheinlich kommt das aus dieser oder jener Produktionsstätte.
    Nun ist das bei Nowichok ein bisschen anders. Das ist sehr geheimnisumwittert. Das sind sehr wenig öffentlich verfügbare Informationen. Wir wissen, dass es möglicherweise an einer oder mehreren Stellen in der ehemaligen Sowjetunion produziert worden ist, aber es gibt auch Informationen, zum Teil in Usbekistan, damals noch im Raum der Sowjetunion. Das heißt, vielleicht könnte man anhand eines chemischen Fingerabdrucks sagen, ja, es kommt aus dieser oder jener Produktion oder eben auch nicht. Wir wissen, dass die Amerikaner damals in Usbekistan geholfen haben, das Programm abzubauen. Die Amerikaner verfügen mit Sicherheit auch über Proben aus dieser Sowjetproduktion. Man könnte das vergleichen. Da ist einiges möglich. Sicher ist das gar nicht, aber deswegen sage ich ja auch nach wie vor, die OPCW, die internationalen Chemiewaffen-Inspekteure, die müssten das unabhängig untersuchen.
    "Herausfinden, aus welcher Ecke der Anschlag kam"
    Kaess: Aber es könnte auch darauf hinauslaufen, selbst wenn da jetzt noch weiter ermittelt wird, dass wir immer bei Vermutungen bleiben werden und man nicht eindeutig nachvollziehen kann, woher es gekommen ist?
    van Aken: Na ja. Ich sage mal, in jedem Mordfall, in jedem Kriminalfall haben Sie genau das Problem. Sie haben Indizien. Je länger Sie ermitteln, desto mehr Indizien haben Sie. Am Ende gibt es natürlich einzelne Mordfälle, die bleiben unaufgeklärt, wobei ich davon ausgehe, dass bei der Größe dieses Vorfalls und bei der Schwere der Tat mit diesem Nervengift so viele Ermittlungen dort stattfinden werden, dass wir am Ende wahrscheinlich - und vielleicht dauert es noch das eine oder andere Jahr - dann doch herausfinden werden, aus welcher Ecke dieser Anschlag kam. Ich finde es möglich, dass es aus Russland kommt. Ich finde, es gibt aber im Moment keinen einzigen Beleg dafür, dass es aus Russland kommt.
    Klärung über Restbestände des Nowichok-Programms
    Kaess: Jetzt haben wir schon über die Haltung Londons gesprochen. Schauen wir mal auf die Haltung in Moskau. Dort hat man dieses Ultimatum, das Großbritannien gesetzt hatte, sich zu erklären, verstreichen lassen. Was kann denn Moskau tun, um seine Unschuld zu belegen, wenn es denn tatsächlich unschuldig sein sollte, so wie man das ja behauptet?
    van Aken: Das erste ist, dass die Engländer konkreter sagen müssen, was sie haben. Da haben die Russen natürlich völlig Recht. Das muss über die Chemiewaffen-Konvention laufen und dann gibt es kein 24-Stunden-Ultimatum, sondern zehn Tage. Das ist festgelegt in dem Abkommen. Da sind die Engländer und Russen auch Mitglieder in diesem Abkommen. Und ja, dann muss es Erklärungen geben, aus Russland zum Beispiel, was ist mit den Restbeständen des Nowichok-Programms passiert. Sie müssen vielleicht chemische Fingerabdrücke von ihren Proben zur Verfügung stellen, damit das verglichen werden kann. Da gibt es Möglichkeiten der Aufklärung. Ob die am Ende eindeutig sind, weiß ich nicht. Ich halte es mittlerweile für politisch so aufgeladen und auch mit einem sehr ungesunden Eigeninteresse von Theresa May, sich selbst innenpolitisch zu stärken, dass ich glaube, im Moment wird das eher verbal eskalieren. Die Frage ist, ob sich das denn wieder in ein paar Tagen verbal deeskalieren lässt. Unter Trump ist ja alles möglich.
    Produktionsanlagen und Lagerstätten in Usbekistan
    Kaess: Ist dieses Gift jemals in einem anderen Land als Russland hergestellt worden, oder führen die Spuren dann in jedem Fall nach Russland, jetzt mal dahingestellt, ob es tatsächlich eine staatliche Stelle gewesen wäre, die diesen Anschlag veranlasst hätte, oder vielleicht eine Gruppe, die irgendwie an diesen Stoff gelangt ist?
    van Aken: Das ist schwer zu sagen. Es gibt Informationen, dass damals in der Sowjetunion das in der Usbekischen Teilrepublik hergestellt wurde, und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es entsprechend Produktionsanlagen und Lagerstätten in Usbekistan, möglicherweise noch in anderen Teilrepubliken. Das ist das eine und das andere ist: Ob es in anderen Ländern hergestellt worden ist – ich würde mal vermuten ja. Nicht in Mengen als chemische Waffe, aber um Proben herzustellen, um auch Testverfahren zu validieren und so weiter. Ich bin mir sicher, dass die Amerikaner durch den Abbau damals in Usbekistan sehr genau wissen, wie man das Zeug herstellt. Ich traue es auch den Deutschen zu. Und es ist üblich, dass man im Rahmen von Abwehrmaßnahmen geringste, minimale Mengen davon produziert, um seine eigenen Atemmasken zu testen und so weiter. Ich glaube schon, dass es kleinste Produktionsmengen davon woanders gibt, aber das ist alles Spekulation. Das ist alles nicht öffentlich.
    Kaess: Einschätzungen von Jan van Aken, Außenpolitiker der Linken, ehemals Abgeordneter des Bundestages und Biowaffen-Inspekteur der Vereinten Nationen. Danke für Ihre Einschätzungen heute Mittag.
    van Aken: Ich bedanke mich bei Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.