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Vater des modernen Essays

Der französische Philosoph Michel Eyquem de Montaigne wuchs auf einem Schloss auf und war später im Stadtrat von Bordeaux tätig. Nebenbei ging er der Frage des freien Willens nach und brachte seine Ideen in der modernen literarischen Gattung des Essays zu Papier.

Von Kersten Knipp | 28.02.2008
    Die Vorstellung besticht bis heute: Da sitzt ein Philosoph in seinem Turm, zurückgezogen vom Trubel der Welt und denkt über das Leben nach. Über den Menschen und das, was ihn ausmacht, als Einzelwesen und als Mitglied der Gesellschaft. Worauf gründen die Konstanten des menschlichen Lebens und worauf die Freiheit? Fragen wie diese stellte sich der am 28. Februar 1533 geborene Michel Eyquem de Montaigne auf seinem väterlichen Schloss in der südfranzösischen Dordogne. Als Mitglied im Stadtrat von Bordeaux hatte er lange Zeit im öffentlichen Leben gestanden. Doch nach dem Tod des Vaters, mit 38 Jahren, suchte der Edelmann die Einsamkeit, um ein schonungsloses Bild seiner selbst und seiner Zeitgenossen zu entwerfen. So heißt es im Vorwort der 1580 veröffentlichten ersten Bände seiner Essays:

    "Dieses Buch ist aufrichtig, geneigter Leser. Ich habe dadurch weder dir zu dienen, noch mich berühmt zu machen gesucht. Ich habe es vielmehr meinen Freunden und Verwandten zum Dienst gewidmet: damit sie, wenn sie mich eingebüßt haben (welches bald geschehen wird), darinnen einige Züge von meinen Umständen und meiner Gemütsart wieder finden können, und durch dieses Mittel das Andenken des mit mir gepflogenen Umgangs umso vollkommener und lebhafter erhalten."

    Der Philosoph irrte: Er würde durchaus noch einige Jahre zu leben haben. Sie gaben ihm Gelegenheit, weiter an seinen Essays zu schreiben, jenen tausende Seiten zählenden Analysen und Betrachtungen, die ihm schließlich einen Platz in der Weltgeschichte der Philosophie und Literatur sichern würden. Sie sind der gewaltige Versuch, die Bedingungen der Freiheit zu erkennen, das, was dem Menschen seine Entscheidungskraft, seinen freien Willen ermöglicht. Im Grunde ein unmögliches Unterfangen: Denn der Mensch, weiß Montaigne, ist konditioniert. Er ist befangen, seitdem er zur Welt kam. Denn am Anfang war Erziehung, und die hält für das ganze Leben.

    "Die Gesetze des Gewissens, welche unserer Ansicht nach aus der Natur entspringen, entstammen vielmehr der Gewohnheit. Jeder verehrt in seinem Herzen die in seinem Lande gebilligten und eingeführten Meinungen und Sitten, so dass er sich denselben nicht ohne Gewissensbisse entziehen kann, und denselben niemals ohne inniges Vergnügen gemäß handelt."

    Montaigne glaubte an die menschliche Vernunft. Er sah aber auch die Affekte und Emotionen, all jene Triebkräfte, die auf untergründige, kaum sichtbare Art Handlungen und Entscheidungen eines Menschen beeinflussen. Die Wissenschaft sieht in ihm einen Vorläufer der modernen Psychologie, einen frühen Entdecker jener dunklen Seelenkräfte, deren ganze Wirkungskraft 300 Jahre später erst Sigmund Freud offen legte. Dabei war Montaigne der Welt durchaus zugetan, hatte Jura und Philosophie studiert, eine Frau geheiratet, mit der er sechs Töchter hatte. 1582, nach über zehn Jahren eines abgeschiedenen Lebens, kehrte er denn auch in die Politik zurück und wurde Bürgermeister von Bordeaux. Den Rückzug in seine Bibliothek hatte er nie als Flucht vor den Anforderungen des Lebens verstanden, im Gegenteil: Jede Flucht, wusste er, wäre vergeblich. Denn vor den Abgründen der Existenz war er auch in den Höhen seines Turms nicht sicher.

    "Wir haben uns zwar von dem Hofe und dem Lärm freigemacht. Aber wir haben uns dadurch noch nicht von den hauptsächlichsten Martern unseres Lebens befreit. Die Ehrsucht, der Geiz die Unschlüssigkeit, die Furcht und die Begierden verlassen uns nicht, wenn wir gleich in ein anderes Land gehen. Sie folgen uns oft bis in die Klöster und in die Schulen der Weltweisheit nach, weder die Wüsten noch die Felsenklüfte, noch das raue Hemd noch das Fasten entledigen uns derselbigen."

    Die Welt der Kultur setzt die Leidenschaften der Seele nicht außer Kraft, im Gegenteil: Sie regt sie sogar noch weiter an. Montaigne war ein Vielleser. Bis zu seinem sechsten Jahr war er ausschließlich mit Latein groß geworden, kannte die Sprache der römischen Klassiker und war auch mit Griechisch bestens vertraut. Darüber hinaus wurde er zu einer exemplarischen Renaissancegestalt: Seine Texte quellen über von Zitaten klassischer Autoren, seine Texte verweben sich mit denen der antiken Philosophen, treten mit ihnen in Dialog, nehmen deren Impulse auf, entwickeln sie weiter, lassen sie dann wieder fallen. Und wenn aus diesem Gespräch quer durch die Jahrhunderte neben stilistischer Eleganz eines erwächst, dann die Einsicht in die Kürze des menschlichen Lebens überhaupt.

    "Wir sollten das Alter, zu welchem wir gelangt sind, als eines betrachten, zu welchem wenige Leute gelangen. Weil nach dem ordentlichen Laufe die Menschen dasselbe nicht erreichen, ist dies ein Zeichen, dass wir ziemlich weit voraus sind. Nachdem wir so vielen Gelegenheiten zu sterben entgangen sind, so müssen wir billig erkennen, dass ein außerordentliches Glück wie dieses ist, das uns erhält und das ganz ungewöhnlich ist, nicht lange währen kann."

    Michel de Montaigne starb am 13. September 1592, im damals gesegneten Alter von 59 Jahren. Er gilt heute als der Schöpfer des modernen Essays, den er auf höchstes philologisches Niveau brachte und als eigenständige literarische Gattung etablierte.