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Vater Staat entdeckt die Fürsorglichkeit

Eigentlich wollte der Kanzler des deutschen Kaiserreiches, Otto von Bismarck, die revolutionären Umtriebe der neu entstandenen Sozialdemokraten bekämpfen. Aber die Gesetze, die er dafür auf den Weg brachte, gelten bis heute als Säulen eines modernen Sozialstaates. Das erste, das "Gesetz zur Krankenversicherung", wurde am 15. Juni 1883 vom deutschen Reichstag verabschiedet.

Von Andrea Westhoff | 15.06.2008
    "Bet' und arbeit" heißt dieses frühe Arbeiterlied, geschrieben 1863. Es erzählt von der sozialen Not, die groß war zu dieser Zeit im Deutschen Kaiserreich: Die Industriearbeiter erhielten nur Hungerlöhne, obwohl sie 60 Stunden pro Woche schufteten; sie hausten in den Elendsvierteln der Großstädte auf engstem Raum, waren deshalb häufig krank, und aufgrund der katastrophalen Zustände in den Fabriken gab es zahlreiche Unfälle, so dass viele durch Invalidität ins totale Elend stürzten. Es war eine Zeit enormer sozialer Spannungen - und wachsenden Widerstands - auch das wird in dem Lied schon deutlich: verfasst anlässlich der Gründung des "Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins" ist es ein erstes Dokument der politisch organisierten deutschen Arbeiterbewegung...

    "Mann der Arbeit aufgewacht
    und erkenne Deine Macht!
    Alle Räder stehen still,
    wenn Dein starker Arm es will!"

    Reichskanzler Otto von Bismarck erkannte die politische Sprengkraft dieser Situation und wollte ihr auf zweierlei Weise entgegen wirken: Einerseits mit dem "Sozialistengesetz" von 1878, das eine massive Einschränkung der politischen Betätigung der "Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands" bedeutete, wie die SPD ursprünglich hieß. Andererseits wusste Bismarck aber auch, dass es damit nicht getan war und riet Wilhelm dem I. zu einer "Kaiserlichen Botschaft", die er selbst am 17. November 1881 im Reichstag verlas. Darin hieß es:

    Schon im Februar dieses Jahres haben Wir unsere Überzeugung aussprechen lassen, dass die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde.

    Bismarck hoffte so die Arbeiterschaft zu überzeugen, dass der "fürsorgliche Staat" mehr als die Sozialdemokratie zu bieten habe...

    In diesem Sinne wird zunächst der Entwurf eines Gesetzes über die Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle einer Umarbeitung unterzogen. Ergänzend wird ihm eine Vorlage zur Seite treten, welche sich eine gleichmäßige Organisation des gewerblichen Krankenkassenwesens zur Aufgabe stellt. Aber auch diejenigen, welche durch Alter oder Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der Gesamtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge.

    Hiermit wurde die bis heute typische Dreiteilung des Sozialversicherungssystems angelegt. Und als erstes beschloss der Reichstag dann am 15. Juni 1883 das "Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter". Es trat am 1. Dezember 1884 in Kraft. Vorbilder waren die Versorgungssysteme der Zünfte für Handwerker oder die "Knappschaftskassen" im Bergbau. Die neue staatliche Krankenversicherung galt zunächst nur für Arbeiter. Die Mitgliedschaft war Pflicht, und die Beiträge zahlten zu einem Drittel die Arbeitgeber und zu zwei Dritteln die Arbeitnehmer. Dafür aber waren sie jetzt versichert, egal wo sie arbeiteten, selbst wenn sie ihren Arbeitsplatz wechselten. Wer krank wurde, bekam vom dritten Tag an in den ersten 13 Wochen eine staatliche Unterhaltsbeihilfe, ferner wurde die ärztliche Behandlung inklusive der notwendigen Medikamente bezahlt. Außerdem gab es eine Wöchnerinnenhilfe und Sterbegeld! Dieses Gesetz zur Krankenversicherung für Arbeiter, das der Reichstag beschlossen hatte, kam ohne die Mitwirkung der Sozialdemokraten, sogar gegen ihre Stimmen im Reichstag zustande! Die Partei erklärte dazu,

    dass sie nach dem bisherigen Verhalten der herrschenden Klasse weder an ihre ehrlichen Absichten noch an ihre Fähigkeiten glaubt...

    ...vielmehr sei man überzeugt,

    dass die so genannte Sozialreform nur als taktisches Mittel benutzt wird, um die Arbeiter vom wahren Weg abzulenken.

    In der historischen Rückschau ist heute unstrittig, dass Bismarck mit den Gesetzen zur Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung die Grundlage für den modernen Sozialstaat gelegt hat. Allerdings war wegen der anfänglich geringen Höhe der Sozialleistungen ein wirkliches Ende des Arbeiterelends noch nicht erreicht: Das Krankengeld zum Beispiel betrug nur 50 Prozent des Lohns, maximal zwei Mark pro Tag, und lag damit noch weit unter dem Existenzminimum für eine vierköpfige Familie.

    "und Du nietest und Du mähst,
    und Du hämmerst und Du spinnst.
    Sag', oh Volk, was Du gewinnst!"

    Bismarck selbst hat seine Sozialpolitik wohl auch eher als gescheitert angesehen, vor allem weil er die erhoffte Entfremdung der Arbeiterschaft von den Sozialdemokraten nicht erreicht hatte. Das deutsche Krankenversicherungssystem von 1883 ebenso wie die späteren Sozialgesetze, die Vorbild für Politiker überall in der Welt waren - ihr "Erfinder" Bismarck erwähnt sie in seinen Memoiren später nicht einmal.