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"Veränderte Vergangenheiten"
Was wäre, wenn es anders gekommen wäre?

Mit der Frage "Was wäre wenn ...?" beschäftigen sich aktuell viele Bücher. Was, wäre Hitler noch am Leben? Was, wäre Castro in New York Baseballprofi geworden? Der renommierte Historiker Richard J. Evans analysiert in seinem Buch "Veränderte Vergangenheiten" das Genre des kontrafaktischen Erzählens - kritisch und amüsant.

Von Otto Langels | 12.01.2015
    Verschiedene Verkehrsschilder zur vorgeschriebenen Fahrtrichtung in einer Sammelstelle.
    Was wäre, wenn die Geschichte eine andere Richtung genommen hätte? (imago / blickwinkel)
    "Unter kontrafaktischen Szenarien verstehe ich alternative Versionen der Vergangenheit, bei denen die Änderung eines einzelnen Ereignisses auf der Zeitachse zu einem anderen Ergebnis als dem führt, das sich tatsächlich ereignet hat. Was wäre geschehen, wenn Großbritannien nicht in den Ersten Weltkrieg eingetreten, sondern neutral geblieben wäre? Welche Folgen hätte es gehabt, wenn Großbritannien 1940 oder 1941 einen Separatfrieden mit Nazideutschland geschlossen hätte?"
    Richard Evans, hierzulande vor allem durch seine dreibändige Geschichte des Dritten Reiches bekannt geworden, nimmt die kontrafaktischen Szenarien durchaus ernst. Der renommierte Historiker folgt den Spuren alternativer Geschichtsschreibung durch die Jahrhunderte, prüft ihre Relevanz und untersucht, ob veränderte Vergangenheiten ein nützliches Werkzeug für die Wissenschaft sein können. Die vielen Beispiele in seiner Darstellung machen das Buch zu einer ebenso vergnüglichen wie erhellenden Lektüre.
    In dem 1934 begonnenen, mehrbändigen Werk "Gang der Weltgeschichte" ließ sich Evans großer Kollege Arnold Toynbee auf mehrere spekulative Gedankenspiele ein. Wie hätte sich Frankreich entwickelt, fragte sich Toynbee beispielsweise, wenn Karl Martell nicht die Oberhand über die Mauren behalten hätte, oder was wäre geschehen, wenn die Wikinger ganz Europa erobert hätten? Der amerikanische Autor William S. Shirer, Verfasser von "Aufstieg und Fall des Dritten Reiches", veröffentlichte 1961 einen Essay, der von der Annahme ausging, die Nazis hätten die USA erobert und die Ermordung der amerikanischen Juden in die Wege geleitet. Shirers Aufsatz sei insofern typisch, schreibt Richard Evans, als kontrafaktische Spekulationen häufig in Form kurzer Aufsätze daherkämen.
    "Mangels authentischem empirischem Quellenmaterial geht Historikern meist schnell die Puste aus. Längere kontrafaktische Spekulationen sind fast immer in Romanform erschienen."
    Kontrafaktische Erzählungen als Warnung
    Mit seinem Essay wollte Shirer seinen Landsleuten augenscheinlich die Verbrechen des Nationalsozialismus wieder ins Gedächtnis rufen. Denn er veröffentlichte den Text in der Hochzeit des Kalten Krieges, als die Freundschaft zwischen der Bundesrepublik und den USA die Erinnerung an den Holocaust zu überlagern schien. Aus der Analyse dieses und vieler anderer Beispiele zieht Richard Evans den Schluss, dass kontrafaktische Szenarien besonders in Phasen politischer oder sozialer Krisen und Umbrüche florierten. Und sie verrieten, eine Ironie der Geschichte, letztlich mehr über die Gegenwart als über die Vergangenheit.
    "Derartige Spekulationen ermöglichen es Historikern, die Geschichte ihren politischen Zielen und ihren Vorurteilen in der Gegenwart entsprechend umzuschreiben, ohne ihre Argumente anhand konkreter, überprüfbarer Nachweise belegen zu müssen."
    Es sind vor allem konservative Historiker, die kontrafaktische Szenarien entwickeln. Denn um in das Rad der Geschichte einzugreifen, müssen die sozialen und ökonomischen Zwänge ausgeblendet und die Geschichtsmächtigkeit bedeutender Männer betont werden. Kein Wunder also, dass sich viele Gedankenspiele um Persönlichkeiten wie Hitler, Stalin, Churchill oder Napoleon drehen. In einem von dem amerikanischen Historiker John Merriman herausgegebenen Sammelband denkt ein Autor darüber nach, was geschehen wäre, wenn Fidel Castro, in seiner Jugend ein talentierter Baseballspieler, einen Profivertrag von den New York Giants angenommen hätte. Die naive Antwort, wenig überraschend: Es hätte auf Kuba keine Revolution gegeben. Doch wenn es schon die großen Männer sind, die Geschichte machen, hätte dann nicht auch ein Che Guevara das Zeug gehabt, Castro zu ersetzen? Richard Evans wendet sich nicht grundsätzlich gegen die Verwendung kontrafaktischer Szenarien, nur dürften sie nicht zügellos, langfristig und realitätsfern angelegt sein und "im Sumpf des politisch motivierten Wunschdenkens versinken".
    Eine Fülle anschaulicher Beispiele
    "So hilft es uns die Absichten und Motive der Männer zu verstehen, die am 20. Juli 1944 ein Attentat auf Hitler verübt haben, wenn wir darüber nachdenken, was geschehen wäre, wenn ihr Plan aufgegangen wäre. Angesichts ihrer Ablehnung des Parlamentarismus und ihres Glaubens an soziale und politische Ungleichheit ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass sie nach Hitlers Tod versucht hätten, ein neues demokratisches Deutschland aufzubauen. Mit derartigen Spekulationen lässt sich herausarbeiten, was die Optionen dieser Männer im Juli 1944 realistischer Weise waren."
    Solche Gedankenspiele sind aber nur zulässig, wenn sich die Historiker nicht auf dünnes empirisches Eis begeben.
    "Langfristige kontrafaktische Spekulationen besitzen wenig Überzeugungskraft und bringen dem Historiker keinen Nutzen, weil sie nach dem veränderten Ausgangsereignis zu viele Glieder der imaginären Kausalkette unter den Tisch fallen lassen."
    Mit veränderten Vergangenheiten komme man im Reich der Tatsachen nicht sehr weit, bemerkte der bekannte englische Sozialhistoriker und Marxist Eric Hobsbawm. In seinem Buch "Wieviel Geschichte braucht die Zukunft?" stellte er die fiktive Frage, was geschehen wäre, wenn Lenin 1917 die Schweiz nicht hätte verlassen dürfen? Die Dinge hätten sich, so Hobsbawm, völlig anders oder nicht wesentlich anders entwickelt. Da die meisten alternativen Geschichtsdarstellungen oberflächlich und willkürlich angelegt sind, lehnen seriöse Historiker sie nahezu einhellig ab. Richard Evans unterzieht die kontrafaktischen Szenarien einer kritischen Analyse und seziert nüchtern die Schwachstellen veränderter Vergangenheiten. Das liest sich manchmal trocken, ist aber wegen der Fülle anschaulicher und amüsanter Beispiele eine anregende Lektüre und kommt mitunter mit einem Schuss englischen Humors daher, etwa in der Widmung seines Buches "für Christine", versehen mit zum Zusatz: "Wenn wir uns nicht kennengelernt hätten ... "
    Richard J. Evans: "Veränderte Vergangenheiten". (Übersetzung: Richard Barth), DVA, 224 Seiten, 19,99 Euro, ISBN: 978-3-421-04650-5.