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Veränderung im Schneckentempo

Seit dem PISA-Schock vor zehn Jahren hat sich laut der Bertelsmann-Studie die Chancengleichheit im Bereich Bildung langsam verbessert. Insgesamt ist der Anteil der Schulabbrecher gesunken. Der Schulerfolg ist jedoch nach wie vor in hohem Maße von der sozialen Herkunft abhängig.

Von Jürgen König | 24.06.2013
    Jörg Dräger vom Vorstand der Bertelsmann-Stiftung plädiert für den Ausbau der Ganztagsschulen.
    Jörg Dräger vom Vorstand der Bertelsmann-Stiftung plädiert für den Ausbau der Ganztagsschulen. (picture alliance / dpa / Stefan Sauer)
    Ja, es habe sich etwas getan seit dem PISA-Schock vor gut zehn Jahren, sagt Jörg Dräger vom Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, aber es gehe im Schneckentempo voran.

    "Es bewegt sich was. Wir sehen ja auch, wenn man sich die PISA-Ergebnisse anguckt, hat kein entwickeltes Land einen solchen Fortschritt gemacht wie Deutschland. Es ist aber insgesamt eher eine Verbesserung von unten und nicht eine Verbesserung insgesamt."

    Die größten Fortschritte gab es bei den Schulabschlüssen. Insgesamt sank der Anteil der Schulabbrecher um mehr als ein Zehntel, von 6,9 auf 6,2 Prozent, doch sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern auch hier – wie in allen vier untersuchten Bereichen - ausgesprochen groß. In Mecklenburg-Vorpommern etwa brechen 13,3 Prozent der Jugendlichen ihre Schulzeit ohne Abschluss ab, fast dreimal so viele wie im Saarland. Das Abitur schaffen im Bundesdurchschnitt mit 51,1 Prozent der Schüler so viele wie noch nie; schulische Leistungen werden aber in den Ländern sehr unterschiedlich zertifiziert: In Nordrhein-Westfalen erreichen fast 60 Prozent der Schüler die Hochschulreife, in Sachsen-Anhalt nicht einmal 37 Prozent. Auch Bayern gehört hier zur Schlussgruppe, was Wilfried Bos, Direktor des Instituts für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund, verwerflich findet.

    "Die investieren relativ wenig Geld in ihre Ausbildungsinstitutionen und kaufen dann hinterher die gut Gebildeten aus den anderen Bundesländern ab, insbesondere aus den ostdeutschen Ländern, die jungen Männer und jungen Frauen mit Abitur, die holen sie dann nach Bayern und behalten sie da - ethisch nicht diskutabel, sagen wir es mal so."

    Beim Kompetenzerwerb stellt der "Chancenspiegel" Stagnation fest. Getestet wurde das Leseverständnis der Grundschüler, es bewege sich seit zehn Jahren auf konstantem, nämlich niedrigem Niveau und sei auch nach wie vor in hohem Maße von der sozialen Herkunft abhängig. Ein wesentlicher Grund dafür sei auch, dass die Zahl der Ganztagsschulplätze in Deutschland weiterhin gering sei. Jörg Dräger:

    "Nach Umfragen sind es 70 bis 80 Prozent der Eltern, die für ihre Kinder eine solche Schulform wünschen; der Anteil der Schüler im Ganztagsbetrieb stieg im letzten Jahr allerdings nur von 26,9 auf 28,1 Prozent - weniger als die Hälfte davon, 13 Prozent der Schüler insgesamt gehen auf die pädagogisch sinnvollste gebundene Ganztagsschule. Wenn der Ausbau der Ganztagsschulen in diesem Tempo voranschreitet, wird es mehr als 50 Jahre dauern, bis jedes Kind in Deutschland die Chance hat, auf eine solche Schule zu gehen."

    Wirklich durchlässiger sind die Schulsysteme nicht geworden, hier stehen Baden-Württemberg, Brandenburg, Schleswig-Holstein noch am besten da; generell aber gilt: Auf zehn Mittelstufenschüler, die den Sprung von einer niedrigeren in einer höhere Schulart schaffen, kommen immer noch 42, die in umgekehrter Richtung wechseln. Auch beim Thema Inklusion ist man nur wenig vorangekommen: Zwar besucht inzwischen jedes vierte Förderkind eine Regelschule, doch hat die Bedeutung der "Institution Förderschule" nicht abgenommen: Der Anteil der Schüler, die auf gesonderten Schulen unterrichtet werden, sank seit 2009 nur von 5,0 auf 4,8 Prozent. Kein Land ist als Spitzenland oder als Schlusslicht herausragend, alle haben Stärken und Schwächen, alle haben "Nachholbedarf". Ja, es gäbe "fantastische Schulen" in Deutschland, so Jörg Dräger, um aber flächendeckend zu solchen Schulen zu kommen, sei es dringend notwendig, dass die Länder endlich zusammenarbeiten.

    "16 Länder erfinden das Rad immer wieder neu, aber weigern sich, die Ergebnisse ihrer Experimente zu vergleichen."

    Damit müsse endlich Schluss sein. Und vorrangig seien auch - und dafür bräuchten die Länder sehr viel mehr Geld: der Kita-Ausbau und der endlich ernsthaft betriebene Ausbau der Ganztagsschulen, die Jörg Dräger am liebsten als Grundrecht verankert sähe.

    "Wir brauchen in Deutschland dringend den Rechtsanspruch auf eine Ganztagsschule; die Eltern sollten das Recht haben, innerhalb einer vernünftigen Entfernung eine gute Ganztagsschule für ihre Kinder zu finden, das fördert die Chancengerechtigkeit, das fördert die Leistung und fördert natürlich auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für die Eltern."