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Verbalattacken und Entgleisungen
"Politiker sollten sehr vorsichtig mit ihrer Sprache umgehen"

"Und ab morgen kriegen Sie in die Fresse!" – Der Germanist Peter Schlobinski rügt den Spruch der scheidenden Arbeitsministerin zum Ende der Großen Koalition. Bewusste Tabubrüche seien ein "Muster des Rechtspopulismus" und sollten deshalb vermieden werden, sagte er im Dlf.

Peter Schlobinski im Gespräch mit Birgid Becker | 01.10.2017
    Andrea Nahles ist neue Fraktionschefin der SPD im Bundestag
    Andrea Nahles ist neue Fraktionschefin der SPD im Bundestag und sorgte jüngst für einen Aufreger. (Imago)
    Birgid Becker: Im Reformationsjahr könnte man es ja auch einfach mit Martin Luther halten: "Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über." Luthers Bibelübersetzung des ungleich komplizierteren lateinischen Originals. Und so betrachtet hat Andrea Nahles, die frühere Bundesarbeitsministerin, halt einfach mal vom Leder gezogen, womit wir dann schon wieder bei Luther wären. Also sie hat sich einfach mal Luft gemacht, als sie sagte:
    O-Ton Andrea Nahles: "Und ab morgen kriegen Sie in die Fresse!"
    Becker: Gerichtet war das an die künftige Opposition, und dann hat sie herzlich gelacht, die neue Fraktionsvorsitzende der SPD. – Geht das denn, auf die Fresse als Maßstab für die politische Debattenkultur? Oder sind wir jetzt arg humorlos? Das habe ich den Germanisten Peter Schlobinski gefragt, der als Vorsitzender der Gesellschaft für die deutsche Sprache im Ruf steht, eher streng zu sein, wenn es um die sprachlich guten Sitten geht. – Andrea Nahles und die Verbalattacke Richtung Opposition, das geht noch? Oder geht das gar nicht?
    Peter Schlobinski: Zunächst mal nicht. Weil ich konservativ bin oder besonders streng bin, geht das meiner Ansicht nach gar nicht, sondern wir müssen hier berücksichtigen, dass wir eine Interview-Situation haben, dass die Öffentlichkeit im Prinzip partizipieren wird an dieser Äußerung. Und unter diesem Kontext, selbst wenn dies scherzhaft vielleicht gemeint war, bin ich der Meinung, dass angesichts der Tatsache des wirklich vergifteten Klimas in Deutschland, was sprachliche Verrohung et cetera betrifft, dass das tatsächlich nicht geht. Man muss das sehr differenziert betrachten, aber unter dem Kontext, dass wir in ganz Europa den Rechtspopulismus haben, dass ganz breit wir eine Rhetorik haben, gerade in diesem Jahr 2017, die teilweise unsäglich ist, bin ich der Meinung, dass Politiker sehr vorsichtig mit ihrer Sprache umgehen sollten und ihren Sprachgebrauch doch sehr kontrollieren sollten.
    Becker: Und so ein Lachen hinterher – wir haben es ja gehört: Andrea Nahles hat herzhaft gelacht hinterher -, das wiegt nichts auf, oder macht nicht doch einen Unterschied zu dieser Formulierung, man werde Angela Merkel jagen, wie sie Alexander Gauland nach gerade gewonnener Wahl genutzt hat?
    Politiker können immer auch missverstanden werden
    Schlobinski: Ja, das Lachen relativiert das sicherlich. Dennoch muss man sehen – und das zeigen ja auch die Reaktionen im Netz und in der Öffentlichkeit -, dass das sehr anders verstanden werden kann, und Politiker sollten immer bedenken, dass sie auch "missverstanden" werden können. Aber in diesem Falle bin ich der Meinung, dass aufgrund des politischen Kontextes das unangemessen war.
    Becker: Nun ist ja der Bundestag nie ein Ort völliger sprachlicher Harmonie gewesen. Lange her die legendären Wortgefechte zwischen Herbert Wehner und Franz-Josef Strauß oder Wehner allein, 34 Jahre im Bundestag, 77 Ordnungsrufe, einsamer Rekord. Wenn man jetzt den Abgeordneten Wohlrabe eine Übelkrähe nennt, dann ist das nicht ganz lustig. Kurz: Sprachlich zimperlich war die Politik zu keiner Zeit, aber wann werden nach Ihrer Einschätzung Linien überschritten?
    Schlobinski: Zunächst einmal: Die Äußerung von Nahles war nicht in einer Debatte im Bundestag, sondern war vor der Medienöffentlichkeit bei einem Interview. Das ist eine ganz andere Situation. Und wenn wir zur Debattenkultur kommen, die, wie Herr Lammert gesagt hat, ein wenig "verkommen" ist, weil zu viel geredet und zu wenig debattiert wird – ist sicherlich richtig, dass wir da große Rhetoren hatten wie Strauß und Wehner. Aber auch die haben gelegentlich die Grenze überschritten. Ich will daran erinnern, dass Wehner auch den CSU-Vizepräsidenten Jäger im Prinzip indirekt als Ungeziefer bezeichnet hat, und Strauß, ich erinnere an Rudolf Augstein als "paranoides Arschloch", Schriftsteller als "Ratten und Schmeißfliegen" und Demonstranten als "verhetzte Kreaturen" bezeichnet hat. Ich denke, auch da ist es so: Die waren sicherlich großartig, gerade in den Debatten. Es gibt wunderbare Bonmots. Sie haben die Übelkrähe zitiert. Oder Wortbildungen und wunderbare Bonmots wie von Strauß zum Beispiel: "Irren ist menschlich, aber immer irren ist sozialdemokratisch". Das sind natürlich wunderbare Formulierungen. Dennoch ist es so, dass beide an verschiedenen Stellen auch die politische Korrektheit doch stark strapaziert haben.
    Becker: "Erst mit der Sprache geht die Welt auf" Das Zitat von Hans-Georg Gadamer, das hat der Ex-Bundestagspräsident Lammert in einem Interview mit Ihnen verwendet. Das war ein Rollenwechsel: Sie haben gefragt. Jetzt antworten Sie. Wenn das so ist, welche Welt geht da auf, wenn ein gerade von einem Wahlerfolg erfreuter Politiker in die Welt schleudert, nun werde man die Bundeskanzlerin jagen? Was ist das für Sie, nur eine Entgleisung oder eine andere politische Welt?
    "Es wird immer stärker in die verbale Trickkiste gegriffen"
    Schlobinski: Sprache drückt ja auch immer aus, welche Einstellungen wir zur Welt haben, zur sozialen Welt, zur objektiven Welt. Und der Sprachgebrauch reflektiert natürlich immer das Weltverständnis und die Weltsicht. Wenn wir beobachten, dass immer stärker wirklich in die verbale Trickkiste gegriffen wird, dass sprachlich verroht wird, dass überzogen wird, dass wir Äußerungen haben, die aus der Sprache des Nationalsozialismus kommen, dann ist das natürlich mehr als bedenklich.
    Becker: In diesen Zusammenhang setzen Sie auch die unsägliche Entsorgungsformulierung?
    Schlobinski: Richtig. Der Begriff Entsorgen, der entmenschlicht ja im Prinzip Personen oder in diesem Fall eine konkrete Person. Wir entsorgen normalerweise Müll, und das ist natürlich ein Sprachgebrauch, der geht überhaupt nicht.
    Becker: Wie fassen Sie das denn jetzt auf? Denken wir auch an das Verunglimpfen des parlamentarischen Raums als Schwatzbude. Eine Entgleisung ist es nicht, nicht wahr? Das ist bewusster Tabubruch?
    Schlobinski: Bei den Rechtspopulisten auf jeden Fall. Da hat das ja System. Bewusste Tabubrüche: Man will sich inszenieren, man spielt sich in die Öffentlichkeit und man ist sich ja dann der Schlagzeilen auch sicher. Das ist wirklich ein Muster des Rechtspopulismus und die demokratischen Parteien und Politiker sollten sich davor hüten, in diese Fußstapfen zu treten.
    Becker: Auf der anderen Seite scheint es ja ein wohl kalkulierter Tabubruch zu sein, dem immer Erfolg beschieden ist. Man sagt etwas, das allgemein als unsäglich wahrgenommen wird, und prompt hat man den Vorteil, alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu können. Den Mechanismus müsste man doch auch irgendwie unterbrechen.
    "Ich behaupte etwas, egal ob es wahr ist oder nicht"
    Schlobinski: Ja gut, das könnte man…Unterbrechen ist natürlich sehr schwierig. Wir wissen das ja von dem berühmten Soziologen Luhmann, der sich ja mit der Mediengesellschaft auch unter systemtheoretischer Perspektive beschäftigt hat. Immer diese Brüche, immer das Besondere, darüber wird immer berichtet. Es ist sozusagen themenanschlussfähig. Man hat eine Erregtheit und diese Erregtheit kann dann in den Medien gut kommuniziert werden, in den sozialen Medien ohnehin jetzt noch viel stärker, so dass das im Prinzip ein Selbstläufer ist.
    Nebenbei gesagt betrifft das jetzt nicht nur die Tabubrüche in dem Sinne, dass man eine "unsägliche Wortwahl" hat, sondern wir sehen das Gleiche ja mit der Wahrheit. Ich behaupte etwas, egal ob es wahr ist oder nicht. Das Gegenteil zu beweisen, ist extrem schwierig. Aber diese Unwahrheit sprich Lüge setzt sich fort und bestimmt den Diskurs.
    Becker: Erhard Eppler, der SPD-Grande, hat ja mal hervorgehoben, dass sich in der Politik zwischen Reden und Handeln gar nicht unterscheiden lässt, weil Reden in der Politik immer auch Handeln bedeutet.
    Schlobinski: Das gilt grundsätzlich. Wenn wir reden, handeln wir. Das ist eine Grundannahme in der Sprachwissenschaft.
    Becker: Was geschieht denn mit Sprache, wenn sie sich in maximal 140 Zeichen pressen muss oder neuerdings 280, worin sich ja auch nicht unbedingt ein komplexer Gedankenvorgang unterbringen lässt?
    Schlobinski: So wie Sie ja schon sagen: Komplexe Zusammenhänge lassen sich natürlich in 140 Zeichen oder jetzt auch 280 Zeichen nicht darstellen. Und wir sehen ja an den massenhaften Tweets von Trump, was geschehen kann, wenn man seine politischen Ansichten in noch weniger als 140 Zeichen im Durchschnitt ja bei ihm kommuniziert.
    Becker: Wir haben ja dieses Interview mit Norbert Lammert, das Sie geführt haben, erwähnt – Lammert, der ja als rhetorisches Ausnahmetalent im Bundestag galt.
    Schlobinski: Richtig.
    Becker: Wenn man jetzt eine Brücke spannt oder spannen will zwischen Eleganz und Ironie des Ex-Bundestagspräsidenten bis hin zur Drei-Wort-Syntax des US-Präsidenten – hat denn Feinsinn, Ironie, Komplexität zu Twitter-Zeiten überhaupt eine Chance?
    Schlobinski: Das hängt ganz offensichtlich immer vom Adressaten ab, also vom Publikum ab. Wir sehen ja, dass Trump extrem erfolgreich war und dass offensichtlich eine doch relativ große Wählerschicht nicht nur einverstanden war mit dem, wie er kommuniziert und was er gesagt hat, sondern dass sie ihn ganz stark unterstützen, auch wenn er der offensichtlichen Lüge und der übelsten Diffamierungen überführt worden ist. Das ist wirklich eine Frage, welcher Nährboden dann auch da ist, und die große Gefahr ist, die wir jetzt hier auch in Europa in vielen Gesellschaften sehen, dass da ein Nährboden entsteht, der dann anfällig ist für diese Vereinfachung, die nicht mehr prüft, ob es um die Wahrheit oder um die Lüge geht, und das ist natürlich im Prinzip eine Gefahr für die Demokratie.
    Becker: Wie stark sind denn Worte? Stark genug, um die Humanität zu schwächen, den Respekt zu nehmen oder die Würde zu beschädigen?
    Man solle sich bewusst machen, "was man mit Sprache tut"
    Schlobinski: In jedem Fall, dass man Respekt absprechen kann, dass man Leuten oder Menschen Würde absprechen kann. Das ist ganz offensichtlich. Auf der anderen Seite reicht dann Sprache nicht aus, um komplett jetzt Gesellschaften zu verändern. Da muss natürlich auch die objektive Realität entsprechend sein. Trump hat nicht alleine die Wahl gewonnen, weil er jetzt über Twitter kommuniziert hat, sondern da gab es natürlich auch handfeste gesellschaftspolitische Probleme.
    Becker: Wenn ich jetzt mit Ihnen als einem Wächter oder als jemandem spreche, der den Gebrauch der Sprache behütet und bewacht, was hätten Sie denn für einen Rat, wie umzugehen ist mit Entgleisungen, mit Tabubrüchen in der Sprache, in der politischen Rede?
    Schlobinski: Sie im Vorfeld vermeiden. Wenn sie erst mal in der Welt sind, ist es natürlich schwierig. Das sieht man jetzt ja auch an dem Nahles-Beispiel, oder damals bei Gabriel, als er von dem Pack geredet hat. Man sollte von vornherein sich bewusst machen, was man mit Sprache tut, und wir haben ja schon gesagt, man handelt durch Sprache und man befeuert im Prinzip eine Stimmung, die man nicht befeuern will. Und die Politiker sagen ja selbst, dass wir jetzt eine Zäsur erlebt haben, dass verbale Gewalt möglicherweise physische Gewalt vorbereitet und so weiter. Sie sind sich eigentlich dessen bewusst und sie sollten dann ihren eigenen Sprachgebrauch kontrollieren und nicht meinen, weil sie jetzt zum Beispiel an die Macht gekommen sind und sie Stärke und Willenskraft kommunizieren müssen, dass man dann so ganz locker und flapsig einfach mal so eine unsägliche Äußerung raushaut.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.