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Verbannung ans Ende der Welt

1950 wurden in der kommunistischen Tschechoslowakei sämtliche kirchliche Orden verboten. Man warf ihnen "Zersetzung des Staates" vor. Nonnen aus dem ganzen Land wurden in das kleine tschechisch-schlesische Dorf Bílá Voda (Weißwasser) an der Grenze zu Polen deportiert. Bis heute ist ihr Schicksal den meisten Tschechen unbekannt. Nun aber erinnert ein Museum an ihr Schicksal.

Von Kilian Kirchgeßner | 15.11.2012
    Die Landschaft ist großartig, hier am Ende der Welt. Hügel reihen sich hintereinander, Alleen säumen die Wege und in der Luft liegt der Geruch von Kohlenheizungen. Bílá Voda heißt der letzte Ort an der Straße, gelegen im nördlichsten Zipfel Tschechiens. Bürgermeister Miroslav Kocián:

    "Es führt nur ein einziger Weg nach Bílá Voda, wir sind von drei Seiten umgeben von der polnischen Grenze. Früher war am Ende unseres Ortes eine Wendeschleife: Wer hierher kam, musste denselben Weg wieder zurückfahren. Das ließ sich perfekt kontrollieren. Damit war Bílá Voda der ideale Ort für Leute, die man vor dem Rest der Welt verstecken will."

    Bílá Voda, 320 Einwohner - der Name sagt selbst den meisten Tschechen nichts. Dabei spielte sich hier eines der dunkelsten Kapitel in der kommunistischen Geschichte des Landes ab. Die Machthaber internierten in dem abgelegenen Ort ab den 50er Jahren viele Ordensfrauen des Landes - nachdem zuvor die Sudetendeutschen von dort vertrieben worden sind. In Nacht- und Nebelaktionen räumte die Geheimpolizei die Klöster überall im Land und verschleppte die Nonnen.

    "Die haben sie in Lastwagen gesteckt und niemand wusste, wohin die Reise geht. Viele der Ordensschwestern dachten, sie kämen in die Gaskammer oder zumindest ins Gefängnis, einige dachten an Sibirien. Und dann sind sie in der tiefsten Nacht hier in Bílá Voda ausgeladen worden, mitten im Niemandsland. Aber es hat sie nicht gebrochen."

    Marek Dušák ist ein zupackender Mann Ende 40 - genau wie Bürgermeister Miroslav Kocián. Sie sind zu Forschern in eigener Sache geworden. Nach Bílá Voda kamen sie erst nach der Wende. Über das Internierungskloster war so gut wie nichts bekannt, die Sache wurde immer noch behandelt wie ein Staatsgeheimnis. Die beiden Männer aber hat die Vergangenheit ihres Ortes nicht mehr losgelassen, erzählt Marek Dušák.

    "Ich bin als Prager Intellektueller hierher auf einen alten Bauernhof gezogen, habe in der Geschichte gewühlt und irgendwann dem Bürgermeister vorgeschlagen: Da müsste man ein Museum drüber machen! Der hat mich nur angeschaut und gesagt: Da denke ich schon zehn Jahre drüber nach."

    Und so machten sich die beiden Männer an die Arbeit, sie wühlten sich durch Archive und trieben die letzten Nonnen auf, die in Bílá Voda interniert waren und heute in Klöstern über das ganze Land verteilt leben. Monatelang sind die beiden durch Tschechien und die Slowakei gefahren, sie trafen sich mit den Frauen und förderten nach und nach die Geschichte des Internierungslagers zutage, die in Tschechien bis heute kaum jemand kennt.

    Drei Zimmer zählt das Museum, das die beiden Männer in Bílá Voda eingerichtet haben. Zu sehen gibt es alte Briefe, amtliche Dokumente und allerhand Relikte aus der Internierungszeit - Belege einer unvorstellbaren Rücksichtslosigkeit, mit der die Kommunisten gegen die Kirche gewütet haben. Bürgermeister Kocián erinnert sich an bewegende Gespräche mit den Ordensfrauen.

    "Sie bekamen gesagt: Nehmt nichts mit, es ist für alles gesorgt. Dann kamen sie hier an, und natürlich gab es überhaupt nichts. Alles war völlig kaputt; die Schwestern erzählten, dass es ein einziges Bett gab, und das hatte nicht einmal eine Matratze. Also haben sie sich in der ersten Nacht Rücken an Rücken zueinander gesetzt, um wenigstens ein bisschen schlafen zu können. Und am Morgen sind sie aufgestanden und haben angefangen, sich um Betten zu kümmern und darum, wo sie kochen und wo sie Wasser bekommen können. Wir haben unglaubliche Schicksale kennengelernt - und wunderbare Frauen."

    Die meisten der Nonnen haben bis ins hohe Alter gearbeitet - es blieb ihnen nichts anderes übrig, sie waren ohne Unterstützung und ganz auf sich allein gestellt. Bürgermeister Kocián:

    "Da gibt es die herrlichen Fotos, wie die Schwestern im Habit am Betonmischer stehen und Zement anrühren oder wie sie an der Kreissäge Holz zerkleinern. Sie haben gemauert, verputzt - alles haben sie selbst gemacht."

    Die ursprüngliche Piaristenschule, die es im Ort gleich neben der Kirche gibt, ist schnell zu klein geworden. Im Höhepunkt des politischen Kampfes gegen die Kirche waren 450 Nonnen in Bílá Voda, sie stammten aus 16 verschiedenen Orden. Insgesamt sind mehrere Tausend Frauen während des Kommunismus hier interniert worden; von ihrem eigenen Geld mussten sie sich Häuser kaufen und herrichten, weil der Platz einfach nicht reichte. Im Laufe der Jahre wuchsen sie eng mit den anderen Bewohnern des Ortes zusammen; eine kleine Schicksalsgemeinschaft hier am letzten Außenposten der damaligen Tschechoslowakei. Doch das Regime hatte seine Fühler bis nach Bílá Voda ausgestreckt. Von einigen vermeintlichen Helfern wurden die Schwestern bespitzelt; die Abgründe und die Willkür reichten bis hinein in die Verbannung, bis in den letzten Winkel des Landes. Fast niemand in Tschechien hat damals von den Ordensschwestern gewusst - und doch haben sie sich hier, in der Einsamkeit ihrer Verbannung, eine Insel des Widerstands bewahrt. Marek Dušák:

    "Ich finde es faszinierend, wie die alten, zierlichen Frauen in der Lage waren, in ihrem persönlichen Kampf den Kommunismus zu besiegen. Man konnte sie in Busse oder Lastwagen stecken und irgendwo hinbringen, aber sie bewahrten sich ihren Glauben und nichts konnte sie davon abbringen; nichts anderes kam für sie infrage."

    Das Internierungskloster in Bílá Voda wurde erst mit dem Ende der kommunistischen Herrschaft aufgelöst; die letzten Ordensfrauen verließen den Ort im Jahr 2002, weil viele ihrer Heimatklöster in katastrophalem Zustand waren. Jetzt ist die Erinnerung an die Ordensschwestern wieder zurück in Bílá Voda. Das kleine Museum macht ihre Geschichte unvergesslich.