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Verbeugung vor dem deutschen Regietheater

Die Goldene Maske – das ist die höchste Auszeichnung, die in Russland an Theatermacher verliehen wird. Dmitri Tcherniakov hat sie schon drei Mal bekommen. Zudem hat er sich schon mehrfach als Opernregisseur des Jahres durchgesetzt. Der neue russische Shooting-Star - erst Mitte dreißig - hatte jetzt mit seiner Version von Mussorgskis "Boris Godunow" an der Berliner Lindenoper Premiere.

Von Georg-Friedrich Kühn | 12.12.2005
    "…Die letzte Oper, die ich inszeniert habe, "Tristan und Isolde", dauert sehr lange. Und ich wollte unbedingt was Kurzes machen. Und dieses Werk ist kompakt, durchsichtig für Zuschauer, kann man ohne Pause spielen"

    Der junge russische Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov ist Pragmatiker. Politisches Theater? Das interessiert ihn eigentlich nicht. Dennoch inszeniert er diesen Boris Godunow von Modest Mussorgski nach dem Poem von Alexander Puschkin. Und er inszeniert ihn fast als Verbeugung vor dem deutschen Regietheater. Vorbehalte hat er, im Gegensatz zu vielen in seiner Heimat, dazu nicht. Im Gegenteil.

    "Ich sage keine Komplimente, aber für mich ist Deutschland das Hauptland des Theaters in ganz Europa."

    Der historische Boris Godunow kümmert Tcherniakov dabei freilich wenig. Er rückt die digitale Zähluhr, die fett über einem Moskauer Metroeingang prangt, ein paar Ziffern vor auf die Jahre 2012 folgende. So will er die Gegenwart besser verstehbar machen.

    "Es ist ein Leben, das so frisch ist, das heute stattfindet, dass wir das nicht reflektieren können. Und deswegen habe ich diese künstlerische Distanz gewählt, um das Heute besser zu verstehen."

    Zu Beginn sieht man Wahlhelfer Plakate vom neuen Kremlboss aufstellen. Das Volk telefoniert am Handy, Wodka- und Wasserflaschen werden immer wieder wie Fähnchen über die Menge gereckt. Ein Chor singt Werbehymnen für den auch schon mal kopf stehenden neuen Politstar. Dann wird der Schreibtisch wie bei Putins poliert für eine TV-Ansprache des neuen Zaren.

    Freilich es ist ein einsames Leben. Stumpf brütet er an seinem Schreibtisch, während Pimen – eher Geheimer denn Mönch – am Katzentisch davor die Chronik des Bösen weiter schreibt. Und Grigorij packt seine Brotzeit mit Dosenfleisch und Tütenmilch zum Tee aus, verschüttet die Zuckerwürfel, macht mit Kurzwäsche aus der Wasserflasche sich frisch und reisefertig für die Flucht über die Grenze.

    Die Konferenz der Bojaren ist abhörsicher ein Treffen unter freiem Himmel mit Wärme vom Radiator-Strahler. Der Müll hat sich schon bedenklich gehäuft im Land. Schuiskj kommt wieder mal zu spät und putzt sich die Zähne mit der Reisezahnbürste. Doch die Verschwörer suchen langsam das Weite. Und Schuiskij, der noch mal ansetzen will zu einem letzten Interview mit Boris, wird ihnen bald folgen.
    Boris’ Kinder werden schon gejagt. Vorbei die Zeiten, da sie bei Vati am Computer das Reich mit Google Earth vermessen konnten. Von allen verlassen stirbt Boris am Ende im Müll. Sogar den Gottesnarren musste er umarmen, damit er überhaupt noch so was wie menschliche Nähe spüren konnte.

    Mit viel Liebe zum Detail ist das von Tcherniakov angerichtet – mit eher etwas zu viel Hyper-Realismus und noch zu wenig eigenem Profil. Klar ist aber die Botschaft: es hat sich nichts oder wenig geändert in den vielen hundert Jahren russischer Geschichte. Die Zähluhr wird wieder auf Null gestellt.

    Star des Abends ist René Pape – ein Boris wie man sich ihn nur wünschen kann mit seinem sonor wie dramatisch geführten Bass, präsent in jeder Faser und ein Zar mit Instinkt für die Macht aber auch mit menschlichem Feingefühl.

    Daniel Barenboim schärft am Pult die Schroffheiten der Mussorgski’schen Partitur. Man spielt die Erstfassung ohne Pause. Viel Beifall am Ende für den Dirigenten, die Sänger, die Kapelle und den Chor. Für Tcherniakov und sein Team weniger Bravos denn Buhs. Ein gleichwohl bemerkenswerter Abend in der Berliner Lindenoper.