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Verblüffende Kritik an der Moderne

Ab den 70er-Jahren unternimmt der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss mehrere Reisen nach Japan. Das Land fasziniert ihn: Er sieht darin die bessere Moderne, die respektvoll mit der Natur umzugehen weiß. In zwei Bänden lassen sich seine Eindrücke jetzt nachvollziehen.

Von Klaus Englert | 10.04.2013
    Der vor drei Jahren hochbetagt verstorbene Ethnologe Claude Lévi-Strauss ist vornehmlich durch seine Studien über Lebensweisen und Mythen der brasilianischen Ureinwohner bekannt geworden. Nun sind nach seinem Tod "Anthropologie in der modernen Welt" und "Die andere Seite des Mondes" erschienen, die ein etwas anderes Licht auf den Begründer der strukturalen Ethnologie werfen. Anlass der Publikationen sind Reisen, die Lévi-Strauss ab 1977 nach Japan unternahm.

    Bislang kannten seine Leser die Schilderungen des reiselustigen Franzosen vornehmlich aus dem 1955 publizierten Bestseller "Traurige Tropen", in dem er den Zusammenprall von moderner Zivilisation und primitiven Kulturen beschrieb. In Lévi-Strauss’ jetzt veröffentlichten Aufsätzen und Vorträgen über die japanische Kultur erzählt er, dass ihm sein Vater schon früh Farbholzschnitte aus Japan schenkte und damit das Interesse für die fernöstliche Kultur weckte. Doch die erste der zahlreichen Japanreisen gönnte er sich erst mit 68 Jahren. Schließlich, im Frühjahr 1983, bereist er die südlichsten japanischen Inseln im Chinesischen Meer. In dem Vortrag, den er mit dem Titel "Herodot im chinesischen Meer" überschrieb, ging er jenen sprachlichen Zeugnissen nach, denen er fast 50 Jahre zuvor bei den brasilianischen Bororo und Namikwara nachging. Es sind die Mythen, deren Faszinationskraft den französischen Ethnologen seither nicht mehr losließ. Seine vornehmste Leistung bestand darin, in den geografisch entferntesten Mythen das geheime Band der Ähnlichkeiten aufgedeckt zu haben. Und so warnt Lévi-Strauss davor, sich ausschließlich an ihre heterogenen und scheinbar verworrenen Inhalte zu halten:

    "Denn es besteht die Gefahr, dass wir uns in einem Magma oder einem Gewimmel von Erscheinungen verlieren. Wir stünden vor einem ungeheuren Durcheinander, wenn wir nicht eine Art Wette eingingen. Mit all diesen Erscheinungen meine ich, wie die aberhundert oder abertausend Gesellschaften auf je eigene Art eines der Probleme des menschlichen Lebens gelöst haben. Unsere einzige Chance, diesem Durcheinander Herr zu werden, ist, davon auszugehen, dass jede von irgendeiner Gesellschaft gefundene Lösung in einer besonderen Sprache etwas ausdrückt, das allen gemeinsam ist."

    Claude Lévi-Strauss sprach vor seinen japanischen Zuhörern über ein Thema, das seine Bücher wie ein roter Faden durchzieht: der Relativismus der Kulturen und der Universalismus der Strukturen. In einem Vortrag, der "das Ende der kulturellen Überlegenheit des Westens" verkündet, bemühte er das "Unbewusste", das jeder spezifischen Kultur eigentümlich sei. Es überdauere jede Umwälzung und bewahre sich in den Gebräuchen, Lebensweisen, Praktiken und Techniken. Und so gestand der französische Forscher:

    "Ich versuche, vollkommen in den mythologischen Stoff einzutauchen. Ich möchte unbedingt begreifen, welche strukturalen Eigenschaften der Inhalt in seinen kleinsten Details birgt. Ich wollte herausfinden, ob es möglich sein würde, hinter diesem ungeheuren Chaos widersprüchlicher Bräuche nicht doch auf gewisse einfache, zahlenmäßig begrenzte Prinzipien zu stoßen, von denen sie sich alle ableiten ließen."

    Lévi-Strauss erklärte dem japanischen Publikum, der verwirrende Inhalt der Mythen künde nur vordergründig von seiner Irrationalität. Man müsse aber seine verborgenen Strukturen erkunden, seine Beziehungen, die er mit anderen Mythen eingeht. Erst dann enthülle sich seine, ihm zugrunde liegende Rationalität. Die "strukturale Eigenschaft", von der Lévi-Strauss spricht, ist jene Invarianz, jenes Unbewusste, das ihn mit weit entfernten Mythen verbindet. So geht der französische Ethnologe auf seiner Reise zu den südjapanischen Inseln der Legende vom stummen Prinzen nach, die ihn sowohl an Herodots Krösus wie auch an die Geschichte des eselsohrigen Königs Midas erinnert. Lévi-Strauss fragt sich natürlich, wie die Geschichte des Krösus auf die Okinawa-Inseln gekommen ist. Und er vermutet, dass der Buddhismus, der sich viele hellenische Elemente einverleibt hatte, diese griechische Legende nach Fernost trug.

    Überrascht haben die Japaner auch Lévi-Strauss’ weiteren Ausführungen zu seiner Mythentheorie zugehört:

    "Wenn man versucht, die Mythen auseinanderzunehmen, um ihre Funktionsweise zu verstehen, zeigt sich sowohl eine Ähnlichkeit als auch ein Unterschied zwischen mythischem und wissenschaftlichem Denken. Es wurde mir klar, dass dem von mir so genannten wilden Denken, das sowohl bei der Ausarbeitung der großen mythologischen Erklärungen als auch bei der Konstruktion der Riten am Werk ist, nichts weiter zur Verfügung stand, als die Gegebenheit des Universums. Es ist in allen Einzelheiten unmittelbar sinnlich gegenwärtig."

    Das Publikum dürfte sich geschmeichelt gefühlt haben, als Lévi-Strauss den Japanern attestierte, selbst "in den modernsten Errungenschaften mit der fernsten Vergangenheit verbunden zu sein." Während er mit Blick auf den Westen diagnostizierte, die Menschen dort seien "müde" von den Revolutionen und Kriegen, würden die Japaner durchaus noch in der Gegenwart des Mythos leben. Lévi-Strauss erinnerte sich an seine letzte Japan-Reise, als er die Insel Kyushu besucht hatte, wo er die ältesten Zeugnisse japanischer Mythologie erkundete. Fast schwärmerisch spricht der Franzose von einer offen mythischen Atmosphäre, die er auf der Insel angetroffen habe, ja sogar von der unerreichten Herrlichkeit der Mythen (S.20/21), die noch immer spürbar sei.

    Lévi-Strauss’ Kulturkonservativismus misst sich nicht an den Werten der westlichen Zivilisation. Vielmehr an den Kohäsionskräften, die nach dem Entstehen der kapitalistischen Klassengesellschaft im Westen und der bürokratischen Apparate im Osten, zusehends verschüttet wurden. Claude Lévi-Strauss konnte diesen sozialen Zusammenhalt bei den bedrohten Völkern der brasilianischen Caduveo, Bororo und Namikwara studieren, bevor diese Ethnien fast vollständig zugrunde gingen. Westlichen Lesern kommt es befremdlich vor, wenn der Pariser Ethnologe vor dem japanischen Auditorium die grundstürzende Französische Revolution kritisiert und – gleichzeitig – die zu den Wurzeln zurückgehende japanische Restauration lobt.

    Zwischen der Treue zur Vergangenheit und den von Wissenschaft und Technik herbeigeführten Veränderungen ist es vielleicht allein Japan gelungen, zu einem Gleichgewicht zu gelangen. Zweifellos verdankt es dies zunächst der Tatsache, dass es mittels einer Restauration und nicht wie beispielsweise Frankreich durch eine Revolution in die Moderne eingetreten ist. (S. 138)

    Der Schlüssel zu dieser verblüffenden Moderne-Kritik liegt in einem Homöostase-Modell, in dem Gleichgewicht von Mensch und Natur. Am Ende von "Die andere Seite des Mondes" erklärt Lévi-Strauss einem japanischen Kollegen in einem Interview, dieses Gleichgewicht bestehe immer dann, "wenn sich der Mensch nicht als Herr und Schöpfer betrachte". Das gelte ausgerechnet für die als primitiv bezeichneten Gesellschaften. Auf die Frage, ob er die Ethnologen als die ersten Ökologen betrachte, antwortete Lévi-Strauss:

    "Ich denke schon. Denn sie gehen bei den Völkern in die Lehre, die selbst ökologisch denken und die es geschafft haben, mit allen Sorten von Praktiken, die wir für abergläubisch halten und leicht verächtlich abtun, im Gleichgewicht mit der Natur zu leben. In Südamerika gibt es den Glauben: Bevor man das kleinste Heilpflänzchen pflückt, muss man zuvor dem Geist dieser Pflanze etwas opfern. All das zwingt zu einem maßvollen Umgang mit der Natur. Es zeigt, dass es außerhalb unserer Lebensweise und unseres Selbstverständnisses als Herren und Meister der Schöpfung die Möglichkeit gibt, uns als Teil dieser Schöpfung zu begreifen, die wir zu achten haben. Denn alles, was wir zerstören, wird niemals ersetzt werden. Aber wir müssen an unsere Nachfahren das weitergeben, was wir erhalten haben."

    Das Abweichen von diesem Gleichgewicht versteht Lévi-Strauss als inauthentisch (S.32). Das sei ein Charakterzug der hoch entwickelten, modernen Gesellschaften, in denen der französische Ethnologe lediglich Individuen erblickt, die zu austauschbaren und anonymen Atomen (S.89) reduziert wurden. Lévi-Strauss sieht in dieser Entwicklung den Übergang von einer kalten, wandlungsresistenten Gesellschaft zu einer heißen, entropischen Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die vom Veränderungsfuror und Wettbewerb, von Energieschüben und Wachstumseuphorien geprägt ist. Einer Gesellschaft, die nicht zur Ruhe kommt. Und die, wie Lévi-Strauss seinem japanischem Publikum verkündet, Menschen auf den Zustand von Maschinen reduziert und im Namen des Fortschritts Menschen knechtet (S.91).

    Claude Lévi-Strauss hofft, einer "klügeren Zivilisation" würde es gelingen, sich vom jahrtausendealten Fluch des Fortschritts zu befreien und die Maschinen in Menschen zu verwandeln (S.91). Dennoch ist er sich darüber im Klaren, dass sich in einer hochkomplexen Gesellschaft das Rad des Fortschritts nicht zurückdrehen lässt. Alles andere wäre nostalgische Schwärmerei. Das scheint auch Lévi-Strauss geahnt zu haben. Denn das ihm lieb gewordene Japan-Bild bekommt bisweilen Risse, wenn er die schwer erträgliche Brutalität zugeben muss, mit der Japan die Natur behandelt. Wohlgemerkt, das sind Äußerungen, die lange vor dem Reaktorunglück in Fukushima entstanden. Lévi-Strauss’ konservative Zivilisationskritik hätte sich dadurch aber kaum verändert:

    "Diese Welt steuert selbst da auf Überbevölkerung zu, wo diese noch nicht herrscht, da die Bevölkerungsdichte noch gesteigert wird durch die Beschleunigung der materiellen und intellektuellen Kommunikationsmittel. Und ich glaube, dass uns diese Welt mehr und mehr zu Konsumenten, zu bulimischen Konsumenten der uns umgebenden Reichtümer macht. Dazu zählen die materiellen Reichtümer des Universums, die wir durch den Konsum zerstören und die geistigen Reichtümer, die wir derart intensiv und schnell absorbieren, dass wir gar nicht ebenso schnell Nachschub schaffen können."

    Claude Lévi-Strauss blieb seiner Vorliebe für Mythen und einer etwas altmodischen Zivilisationskritik treu. Damit stand er quer zur intellektuellen Avantgarde, die in den Erstarrungen der Nachkriegszeit die Potenziale des Werdens freilegen wollten. In den Zeiten geistigen Aufbruchs, als die jungen Denker neue Theoriegebäude errichteten, hielt sich Lévi-Strauss bewusst abseits. Er hielt dem klassischen Strukturalismus und der Mythenforschung die Treue. Die beiden Japan-Bände offenbaren nun die inneren Beweggründe seiner Zivilisationskritik. Einer Kritik, die keineswegs in ausweglosem Pessimismus mündet:

    "Dieser Pessimismus gibt, so scheint mir, dem Optimismus die größte Chance, denn wenn wir sehr pessimistisch sind, werden wir uns der lauernden Gefahren bewusst. Nur wenn wir pessimistisch sind, werden wir den Mut zu notwendigen Lösungen finden. Dann können wir uns vielleicht wieder eine bescheidene Dosis Optimismus leisten."


    Claude Lévi-Strauss: Anthropologie in der modernen Welt
    Suhrkamp 2012, 148 S.
    Claude Lévi-Strauss: Die andere Seite des Mondes. Schriften über Japan
    Suhrkamp 2012, 175 S.