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Verbrechen im Gedächtnis

Der Bundestag hat das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs verabschiedet. Ein langes Tauziehen in der Koalition ist dem vorausgegangen.

Von Claudia van Laak | 14.03.2013
    Streichholzkurze Haare, an der Seite ein langer dünner Zopf, die Brille mit knallrotem Bügel, die Augen dahinter blitzen. Gabriele Gawlich ist 59, wirkt aber zehn Jahre jünger. Die Frau, die hier in einem Berliner Café in ihrem Hagebuttentee rührt, ist lebenslustig. Das war nicht immer so.

    "Mir ging es so schlecht, dass ich einfach nicht mehr weiterwusste. Mehrere Selbstmordversuche. Und irgendwo bin ich dann selbst auf die Idee gekommen, dass ich etwas machen muss."

    Gabriele Gawlich ist 40, als sie in eine schwere Lebenskrise gerät, physisch und psychisch zusammenbricht.

    "Ich hatte ein Gebäude um mich herum gebaut, wie ein Pseudo-Leben. Und habe dann aufgrund einer, ja in einer größeren Belastung im familiären Bereich, mein Sohn war sehr krank, eine so starke psychische Beeinträchtigung gehabt, dass dieses Gebäude zusammengebrochen ist."

    Erst in der Therapie realisiert die Verwaltungsangestellte, dass sie als Kind sexuell missbraucht wurde. – Zwei Männer aus der nahen Verwandtschaft hatten ihr und ihrer Schwester jahrelang sexuelle Gewalt angetan. Bei vielen Opfern sexueller Gewalt ist es ähnlich – es vergehen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, bis die Leidtragenden die Taten realisieren und verarbeiten können. Deshalb ist es so wichtig, dass die Betroffenen jetzt 30 Jahre lang Zeit haben, Schadensersatz vom Täter zu verlangen, sagt Gabriele Gawlich. So sieht es das Opferschutzgesetz vor, das der Bundestag heute verabschiedet hat.

    "Also, ich begrüße das Gesetz. Auf jeden Fall. Ich empfinde das als einen Fortschritt. Ich kann natürlich befriedigt sagen, ich habe dazu beigetragen. Das ist etwas, worauf ich auch stolz bin."

    Gabriele Gawlich war Mitglied am Runden Tisch der Bundesregierung gegen sexuellen Kindesmissbrauch, hat für die Verlängerung der Verjährungsfristen gekämpft. Genau wie Matthias Katsch, der Sprecher des Eckigen Tisches. In diesem Verein haben sich Männer zusammengetan, die Opfer sexuellen Missbrauchs in Jesuitenschulen geworden sind.

    "Also ich bin froh, dass der Schritt jetzt noch zustande gekommen ist, das war ja nicht zu erwarten, nach diesem endlosen Gezerre."

    Fast 20 Monate lang lag der Gesetzentwurf im Rechtsausschuss des Bundestages. Die Regierungsfraktionen konnten sich nicht einigen. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Siegfried Kauder, Vorsitzender des Rechtsausschusses:

    "Die einen wollten nicht rüber, die anderen wollten nicht nüber, Kompromissvorschläge von mir hat man nicht angenommen. Also, ich drehte mich im Kreis."

    Mit dem jetzt gefundenen Kompromiss ist der CDU-Rechtspolitiker Kauder nicht hundertprozentig zufrieden. Er hätte sich gewünscht, dass die Verjährungsfristen im Strafrecht denen im Zivilrecht angepasst worden wären. Sprich: dass ein Täter auch noch 30 Jahre nach der Tat verurteilt werden kann.

    "Manche Frau kann sich erst in späten Jahren ihres Lebens öffnen. Sie wird nicht verstehen, dass der Täter nicht mehr verfolgt werden kann, dass sie aber Schmerzensgeldansprüche geltend machen kann. Also die weniger wichtige Hälfte des Geschehens kann sie abarbeiten, die Verurteilung des Täters kann sie nicht mehr betreiben. Es ist ein nicht ganz zufriedenstellendes Ergebnis."

    Das sehen viele Opfer allerdings anders. Wenn sie sich mit den seelischen Verletzungen auseinandergesetzt und eine erfolgreiche Therapie hinter sich haben, wollen die meisten ihre Ruhe. Käme es dann noch zu einem Strafprozess gegen den Täter, müssten sie vor Gericht als Zeugen aussagen. Matthias Katsch wünscht sich deshalb ...

    "... dass es die Möglichkeit gäbe in Zukunft, den Betroffenen die Entscheidung zu überlassen, ob sie eine Straftat noch verfolgen wollen."

    So sieht es auch Gabriele Gawlich. Als Zeugin vor Gericht aussagen? Auf keinen Fall – sagt sie bestimmt und rührt in ihrem Hagebuttentee.

    "Irgendwo ist bei mir immer noch die Angst. Da man als Opfer ja nichts beweisen kann. Es gibt bei mir nichts, dass ich beweisen kann. Ich habe niemals Tagebuch geführt, ich kann nichts beweisen. Man steht am Ende da als Lügner. Und, wir wissen heutzutage, dass also nach so einem Verfahren die Täter, denen man nichts beweisen konnte, auch die Opfer, die Betroffenen, in Regress nehmen."

    Gabriele Gawlich hat mit der Vergangenheit abgeschlossen."Mir geht es gut, ich habe nach der Therapie ein neues Leben begonnen", sagt sie und strahlt. Mit 50 Jahren hat sie ihr Abitur gemacht, jetzt, mit 59, studiert sie Politikwissenschaften.