Donnerstag, 28. März 2024

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Verbrechen in staatlicher Verantwortung
Kinder bei pädophilen Pflegevätern

Jahrelang haben Berliner Jugendämter Kinder zu pädophilen Pflegevätern geschickt. Die Opfer leiden bis heute unter der Missbrauchsfolgen. Die Jugendsenatorin will die Fälle aufarbeiten. Bei der Frage nach Schmerzensgeld für die Opfer stellt sich aber das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg quer.

Von Claudia van Laak | 28.05.2019
Ein Teddy am Boden im warmen Licht der Morgensonne, welches durch die Haustür aus Glas auf den Flur fällt.
Schwere posttraumatische Belastungsstörung, Zwangserkrankungen, schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten - die Opfer leiden oft ein Leben lang. (dpa)
Sie haben Apfelkuchen gekauft und ihn mitten auf den Tisch gestellt. Doch der Kuchen bleibt unberührt an diesem Nachmittag in einer kleinen Wohnung in Berlin-Steglitz, in der Marco und Sven ihre schier unglaubliche Geschichte erzählen. Beide möchten ihren richtigen Namen nicht im Radio hören. Sie sind Mitte 30, haben fast die Hälfte ihres Lebens bei dem Pflegevater Fritz H. verbracht. "Bei einem Monster", sagen sie heute.
"Wir sind aufgezogen worden von diesem Mann, einfach um seine Wünsche zu erfüllen, um da zu sein, wenn man diese Wünsche erfüllen sollte."
Sven war ein Findelkind. Ausgemergelt und krank kam er zu seinem mittlerweile verstorbenen Pflegevater, lernte dort Marco kennen.
"Es gab Kommandos, die man zu erfüllen hatte. Gespräche, wie wir sie miteinander führen, gab es nicht." "Wir sind dort systematisch abgekapselt worden. Dementsprechend gab es keine anderen Einflüsse von außerhalb."
Körperliche Züchtigungen waren normal
Zu Beginn des Gesprächs läuft Marco plötzlich aus dem Wohnzimmer. Eine Panikattacke, Herzrasen, Todesängste. Als er sich beruhigt hat, erzählt er von insgesamt acht Pflegebrüdern, die das Jugendamt über die Jahre hinweg zu Fritz H. schickte. Einige blieben nur kurz, andere 15 Jahre lang, so wie er selber. Marco und Sven haben nie liebevolle, unterstützende Eltern kennengelernt. Für sie war das, was der Pflegevater mit ihnen anstellte, Normalität.
"Körperliche Züchtigungen. In dem er einen geschlagen hat. Devise war gewesen: Er schlägt den Teufel in uns. Nicht uns, sondern den Teufel. Und eben der sexuelle Missbrauch, der mit sechs Jahren angefangen hat."
Von 1989 bis 1996 – so bestätigt es auch die Staatsanwaltschaft – wurde Marco sexuell missbraucht. Für die Älteren hat sich unser Pflegevater nicht mehr interessiert, sagt Marco, nur für die Kleinen.
"Irgendwann schaltet man ab. Bis zum 13., 14. Lebensjahr. Wenn man nichts anderes kennt und abgekapselt wird. Man war nie im Urlaub, nicht einmal auf dem Spielplatz, Schule wurde oft vernachlässigt."
Ein Projekt in den 60er-Jahren
Die Westberliner Senatsverwaltung genehmigte schon in den 60er-Jahren ein Projekt, bei dem Straßenkinder zu pädosexuellen Männern in Pflege gegeben wurden. Treibende Kraft: der damalige Abteilungsleiter des Pädagogischen Zentrums Helmut Kentler. Der spätere Professor an der Uni Hannover plädierte für die Legalisierung von Sex mit Kindern, er schrieb Gutachten im Auftrag von Gerichten und Jugendämtern, auch über Marco. Beim Jugendamt des Berliner Bezirks Schöneberg setzte sich der mittlerweile verstorbene Kentler für Fritz H. ein, den mutmaßlichen Missbrauchstäter und Pflegevater. Die Berliner Jugendsenatorin Sandra Scheeres:
"Was ich total erschreckend finde, ist die Argumentation, die Kentler damals vorgenommen hat, nämlich zum einen, dass die Jugendlichen ein Zuhause erhalten und die Pflegeväter eben Sex, und dass beide Seiten davon profitieren würden. Und es ist ganz deutlich, dass hier ein Verbrechen in staatlicher Verantwortung stattgefunden hat."
Jugendsenatorin Scheeres lässt den Skandal derzeit wissenschaftlich aufarbeiten. Noch sind viele Fragen offen. Die wichtigsten: Wie viele Täter gab es? Und wie viele Opfer? Anfangs war nur von einem Projekt in den 60er- beziehungsweise 70er-Jahren die Rede. Doch der Fall von Marco und Sven zeigt: Das Jugendamt brachte 30 Jahre lang Pflegekinder beim mutmaßlichen Missbrauchstäter Fritz H. unter, mindestens bis zum Jahr 2001. Das Bezirksamt Berlin-Schöneberg gab sogar einen schwerst mehrfach behinderten Jungen in dessen Obhut.
Sein Leben sei "erbärmlich. Erbärmlich einfach."
"Der Kleine ist gestorben, wir können froh sein, dass wir da lebendig rausgekommen sind. Der ist leider vor meinen Augen, vor unseren Augen an einer normalen Grippe verstorben. Weil der Pflegevater prinzipiell alle Ärzte abgelehnt hat, um den sexuellen Missbrauch zu vertuschen," erinnert sich Marco.
Der heute 36-Jährige ist arbeitsunfähig, die Diagnose lautet schwere posttraumatische Belastungsstörung, verbunden mit Zwangserkrankungen und schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Auch Sven kann für seinen Lebensunterhalt nicht selber sorgen, er erhält Hartz IV, sammelt Flaschen. Sein Leben nennt er:
"Erbärmlich. Erbärmlich einfach."
Welche Hilfe haben die beiden vom Land Berlin erhalten, von der Institution, die ja die Verantwortung für diesen Skandal übernommen hat? SPD-Jugendsenatorin Sandra Scheeres sagte dazu bereits im Herbst letzten Jahres:
"Es geht darum, diese Dinge aufzuklären und die Betroffenen zu unterstützen."
Die Senatsverwaltung für Jugend helfe den beiden Betroffenen bei der Beantragung von Leistungen aus dem Opferentschädigungsgesetz und einem speziellen Fonds, teilt eine Sprecherin schriftlich mit. Einige tausend Euro aus diesem Fonds seien bereits geflossen. Die rechtliche Lage sei allerdings kompliziert, die Senatsverwaltung verfüge nicht über ein Budget, aus dem ein mögliches Schmerzensgeld gezahlt werden könne. Ein Interview lehnte die mit dem Fall betraute Staatssekretärin ab.
Bezirksamt beruft sich auf fachliche Gründe
Die Betroffenen fühlen sich allein gelassen.
"Wo ist da die Gerechtigkeit. Ich gehe als Geschädigter durch das ganze Leben hindurch. Ich krieg keinen Fuß irgendwo hin. Hilfe ist nicht vorhanden."
Marco und Sven wollen nun das Land Berlin auf Schmerzensgeld verklagen, haben einen Antrag auf Prozesskostenhilfe gestellt. Das Gericht hat darüber noch nicht entschieden, aber das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg teilte in einer Stellungnahme im April mit, für die Unterbringung bei Fritz H. seien rein fachliche Gründe ausschlaggebend gewesen. Außerdem könne die Ursache für die Erwerbsunfähigkeit auch die frühkindliche Misshandlung durch die leiblichen Eltern sein. Fazit der Institution, die dem mutmaßlichen Missbrauchstäter Fritz H. jahrelang Pflegekinder schickte: Der Antrag auf Prozesskostenhilfe sei abzulehnen.
"Ich bin an den Punkt gekommen, wo ich wirklich sagen muss, dass ich entsetzlich müde bin. Hätte ich meinen Glauben nicht, würde ich schon längst schlafen gehen."