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Verdrängtes Risiko

Die neue Disziplin "Sozioanalyse" untersucht verborgenen Antriebe, Denkmuster und menschliche Gefühle bei wirtschaftlichen Entscheidungen. Die neue Forschung liefert viele Antworten in Bezug auf die aktuelle Wirtschaftskrise.

Von Martin Hubert | 08.03.2012
    Warum geraten Gesellschaften und Ökonomien immer wieder in Krisen? Wieso genügt es offenbar nicht, dass hoch bezahlte Experten jede vergangene Krise rational aufarbeiten und Verbesserungsvorschläge für die Zukunft machen? Burkard Sievers, emeritierter Professor für Organisationsentwicklung an der Bergischen Universität Wuppertal, glaubt, die Antwort zu kennen. Man müsse sich von der Vorstellung lösen, dass es dabei nur um richtige oder falsche Ideen ginge. Vielmehr müsse man auch nach den verborgenen Antrieben, Denkmustern und Gefühlen der Menschen fragen. Wer das tut, betreibe "Sozioanalyse":

    "Sozioanalyse ist eine neu entstehende Wissenschaft, die sicherlich aus der Tradition der Psychoanalyse kommt, aber im Unterschied zur Psychoanalyse, die primär am Individuum interessiert ist, richtet sich die Sozioanalyse sehr viel mehr auf das, was in sozialen Systemen unbewusst abläuft, also Unternehmen im Kontext der Konkurrenz, im Kontext der Politik auch."

    Unbewusste Prozesse wie Verdrängung, Wunschdenken oder Realitätsverleugnung sind nach Ansicht der Sozioanalytiker immer beteiligt, wenn Unternehmen miteinander konkurrieren oder Menschen mit ihrem Geld spekulieren. In einem gerade erschienenen Buch hat Burkard Sievers studierte Sievers dabei bestimmte kollektive Fantasien. Schon in den 90er Jahren steckten viele Menschen ihr Geld in die Aktien neu gegründeter Internet-Firmen, weil sie sich einbildeten, das Internet sei eine Geldmaschine per se. Auch als viele diese Internetfirmen im Jahr 2000 zusammenbrachen, änderte das wenig:

    "Alle waren in der Dotcom-Krise davon überzeugt, dass die Aktienkurse weiter ansteigen würden, dass es nie zusammenbrechen würde, dass man dem System vertrauen könnte, das war auch noch vor 9/11, und dass Amerika prosperiert und voranschreitet und - und das lief dann jenseits aller Rationalität!"

    Ähnliche Wachstumsfantasien existierten in der Krise von 2008. Krisenzeichen wurden massiv verdrängt und in den USA erhielten Menschen dauerhaft Hauskredite, die ihr finanzielles Polster weit überstiegen. Man glaubte einfach, dass die Häuserpreise unendlich weiter steigen würden, sodass jeder Kredit abgesichert sei.


    "An dem Beispiel der Hauskäufer - und das zieht sich ja rein bis in die Immobilienbanken und die Hypothekenhändler bis zu den Ratingagenturen hin - war sozusagen so ein perverser Teil darin, dass eigentlich jeder wissen konnte, es könne nicht unendlich weitergehen, aber gleichzeitig von dem Wunsch besetzt war, dass es weitergeht, und dann wurden alle möglichen Stütztheorien erfunden, also beispielsweise dass die Verfügbarkeit von Land in den USA begrenzt sei und auf absehbare Zeit nicht mehr genügend Bauland bereitstehen könnte und dass weitere Emigrationen kommen würden und damit die Nachfrage nach Häusern weiter steigen würde, wo also jeder angenommen hat: Es geht endlos weiter."

    Alle diese Theorien waren zwar im rationalen ökonomischen Jargon verfasst, der mit Zahlen und Trends arbeitet, aber ihr Fundament war nichts weiter als eine kollektive Euphorie. Sie wurde im Wechselspiel zwischen Banken, Ratingagenturen, Politik und Kunden immer wieder neu stimuliert. So verselbständigte sie sich nach Burkard Sievers zu einer kaum mehr hinterfragbaren Masseneuphorie, die auf Risikoverdrängung beruhte und manische Züge trug.

    "Manisch ist das deshalb, weil es manisches Verhalten ist, eine Abwehr von Ängsten: Das ist nicht wahrzunehmen. Und ich denke, es ist auch ein psychotischer Prozess, insofern, als die Fähigkeit zu denken individuell und kollektiv reduziert wird. Und auch die Gier nach Geld dabei, die sowohl bei den Hauskäufern da war als auch bei den Finanzmanagern mit ihren hohen Boni, das war ja eine Bestätigung, dass man jemand ist, eine Selbstbestätigung sowohl auf der persönlichen Ebene als auch auf der Ebene der Banken."

    Ein eng verschlungener Mix aus Gier, Verdrängung, manischer Realitätsverleugnung und der Sehnsucht nach Selbstbestätigung und Macht steckt also für Burkard Sievers hinter den Prozessen, die die Wirtschaft in den letzten Jahren immer tiefer in die Krise hinein manövriert haben. Solche Deutungen provozieren natürlich den Vorwurf, die politischen und ökonomischen Ursachen der Krise zu gering zu achten und eher spekulativ zu sein. Allerdings wollen Sozioanalytiker wie Burkard Sievers politische und ökonomische Analysen keineswegs ersetzen, sondern ergänzen und erweitern. Sie bieten sozusagen einen zweiten, fragenden Blick auf die Realität an, der ins Zentrum rückt, worüber gerne der Mantel des Vergessens gedeckt wird: Warum konnten sich Menschen jahrelang blindlings einer Hypothekeneuphorie hingegeben, die aus heutiger Sicht keiner mehr verstehen kann?

    "Also ich sehe insbesondere im Bankensektor beim Thema Regulierung ein großes Problem."

    Der selbstständige Frankfurter Projektmanager Peter Pelzer sucht ähnlich wie Burkard Sievers nach unbewussten Denkmustern, die Risiken verdrängen und die Regulation des Wirtschaftslebens unterlaufen. Aus seiner eigenen Arbeit in Banken weiß er, wie stark sich dort ein Denken verselbständigt hat, das alles in eine ökonomisch handhabbare Zahl verwandelt, mit der sich ein Vorteil erwirtschaften lässt.

    "Ich rede von der sogenannten Arbitrage. Das ist ein sehr sehr altes Bankgeschäft, was davon ausgeht, Preisunterschiede an verschiedenen Orten zunutze: dass Aktien, die in Hamburg gehandelt werden, wahrscheinlich zu einem leicht unterschiedlichen Preis wie in Stuttgart gehandelt werden und dass man sehr schnell in Hamburg zum Beispiel kauft, in Stuttgart verkauft und diesen Preisunterschied einkassiert."

    Dieses verinnerlichte Denkprinzip des Handels, so Peter Pelzer, dehnen Banken immer weiter aus. Man nutzt Unterschiede zwischen verschiedenen Industriezweigen, nationalen Ökonomien oder Währungen - und eben auch zwischen verschiedenen Regulierungsvorschriften. Etwa bei der neueren Vorschrift für Banken, ihr Eigenkapital zu erhöhen.

    "Das ist ein ganz selbstverständliches Denken in Banken, wo sofort über ein normales juristisches Denken, - "wo sind die Lücken in dieser Regulierung?" - hinaus versucht wird, aus unterschiedlichen Anwendungen von Regularien den Gewinn zu ziehen, dass immer noch die Geschäfte, die eigentlich eingeschränkt werden sollten, ausgeübt werden können. In den Interpretationen, was Eigenkapital ist und was nicht Eigenkapital ist, gibt es Unterschiede, die wieder gegeneinander gehandelt werden können und so weiter."

    Sozioanalytiker verstehen sich als Aufklärer, die solche unbewusst ablaufenden Denkmuster im ökonomischen System bewusst machen. Wie groß aber ist ihre Hoffnung, dadurch auch etwas verändern zu können? Burkhard Sievers ist skeptisch:.

    "…wenn Sie mich fragen ob ich große Hoffnung habe, dass sich das in absehbarer Zeit ändert, dann sage ich: Nein."


    Literatur:
    Burkard Sievers/Susan Long (Hg.): Towards a Socioanalysis of Money, Finance and Capitalism: Beneath the Surface of the Financial Industry; Routledge, London, 2012