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Verein "AusGezeichnet"
Säure-Opfer zeigt Gesicht

Vor zwei Jahren überschüttete ihr Ex-Freund Vanessa Münstermann mit Säure und entstellte ihr Gesicht. Etwa 30 Operationen hat sie seitdem schon überstanden. Die junge Frau will sich nicht verstecken. Mit ihrem Verein "AusGezeichnet" setzt sie sich weltweit für Säure-Opfer ein.

Von Alexander Budde | 19.02.2018
    Das Säure-Opfer Vanessa Münstermann steht 2018 in einem Fotostudio.
    Vor zwei Jahren wurde Vanessa Münstermann von ihrem Ex-Freund mit Schwefelsäure verätzt (dpa / Julian Stratenschulte)
    Vanessa Münstermann, Hals-Tattoo, knallroter Lippenstift - ist ein Energiebündel, mit dem nur schwer Schritt zu halten ist. Extra für ihre Party ließ sich die 29-Jährige eine Silberscheibe in die verätzte Augenhöhle einsetzen. Die ungewöhnliche Prothese ist ein echter Hingucker!
    Diana, 42, Facebook-Freundin, selbst schwer brandverletzt durch einen Autounfall, wirft bewundernde Blicke auf die junge Frau mit dem Spiegelauge.
    "Ich hatte dieses, was Vanessa jetzt macht, immer vorgehabt, so was auch mal in die Welt zu rufen - aber den Schritt zu wagen ist ja dann immer noch 'ne andere Sache. Und ich finde es halt toll, was Vanessa macht, weil es halt so viele Leute gibt, die nicht auf die Straße gehen, weil es da eine ganz große Dunkelziffer gibt, von diesen Menschen, die betroffen sind."
    Vanessa Münstermann will sich nicht verstecken - aber viele Verletzte ziehen sich in ähnlicher Lage zurück, unsere Gesellschaft tut sich mit Entstellten schwer.
    Der Täter ist ein Ex-Freund
    Rückblende: Der Tatort in Hannover-Leinhausen, ein Stadtteil im Norden der Landeshauptstadt. Ein kalter Wind pfeift um die hoch aufragenden Wohnhäuser. Vor zwei Jahren, am Morgen des 15. Februar, führt Vanessa Münstermann hier die Beagle-Hündin Kylie aus. Ihr Ex-Freund kennt diese morgendliche Routine. Er lauert der Kosmetikerin im Gebüsch auf.
    "Er hat das Gespräch noch gesucht. Wo ich dann gesagt habe: 'Lass mich in Ruhe! Ich habe 'ne einstweilige Verfügung erwirkt.' Und dann tänzelte er um mich rum, die ganze Zeit. Zum Schluss habe ich noch gehört: 'Ich geh ja sowieso ins Gefängnis!' Und dann kam die Säure."
    Der Täter hat sie unvermittelt mit Schwefelsäure übergossen. Das Glas mit dem abgefüllten Rohrreiniger hatte er in der Jackentasche verborgen.
    Münstermann erinnert sich noch gut an das lähmende Entsetzen, dass sie nach dem Aufwachen nach 12 Tagen im künstlichen Koma ergriff. Auch an das Gefühl vom stets präsenten Klinikpersonal umstellt, den komplizierten Apparaturen ausgeliefert zu sein.
    "Ich machte meine Augen auf und da waren, glaube ich, 15 Studenten und drei Ärzte. Ich war umgeben von Weiß. Ich lag da in dem Bett und hab noch gar nicht realisiert richtig, was da passiert ist. Ich bin gerade dabei, es einfach niederzuschreiben, was hätte ich mir denn eigentlich gewünscht - oder was war total verkehrt, was hat denn noch meine Ängste geschürt?"
    Rund 30 Operationen
    Die Säure war ihr über das halbe Gesicht geflossen und hat bis zum Oberkörper wulstige Narben hinterlassen. Ein Ohr ist verbrannt, der Mund hängt schief. Das linke Auge ist komplett zerstört, ein Ärzteteam der Medizinischen Hochschule Hannover hat es durch eine Prothese ersetzt. Etwa 30 Operationen hat sie schon überstanden, viele weitere Eingriffe stehen ihr noch bevor.
    Noch im Krankenbett - ihr Körper ist da noch eine einzige Wunde - lässt sie sich von der Lokalpresse fotografieren.
    "Ich möchte anfangen, das zu kitten. Ich möchte da anfangen, zu sagen: 'Leute, anders zu sein ist überhaupt nicht schlimm!' Ich mache mich sichtbar, weil ich möchte, dass die Leute, die danach kommen, die verbrannt sind, die Gesellschaft das langweilig findet, weil sie ja meine Fresse schon kennt!"
    Täter schickt weiterhin Briefe
    Selbst frei von Berührungsängsten sucht Münstermann die Begegnung. Sie spricht im Frühstücksfernsehen, posiert bei Zufallsbegegnungen immer wieder gern für ein Selfie. Doch in ihrem zähen Kampf um Selbstbehauptung kennt Münstermann auch dunkle Stunden.
    "Ich sitze auch ganz oft auf dem Sofa und heule und sage: Warum kann ich diese Maske nicht abnehmen?"
    Da sind zum Beispiel die Erinnerungen an ihren Peiniger. Sie hatte den jungen Mann mit der Sportlerfigur in einem Chatforum kennengelernt, beide sind Adoptivkinder, das verband sie damals. Der Ex-Freund war zuerst liebevoll, dann kippte es: Eifersucht, Vorwürfe, Schläge. Vanessa zeigte den wegen Gewalt und Drogendelikten Vorbestraften schließlich bei der Polizei an. Der rächte sich mit dem Anschlag.
    Zwei Jahre später lebt sie immer noch in Furcht vor dem Täter. Der sitzt zwar wegen gefährlicher Körperverletzung eine zwölfjährige Haftstrafe ab, schickt aber weiterhin Briefe an die Frau, die er für's Leben zeichnete.
    Verein "AusGezeichnet"
    Unterdessen stapeln sich im Kofferraum ihres Autos die Sachspenden für ihr Zukunftsprojekt. Sie hat den Verein "AusGezeichnet" gegründet, um weltweit Säureopfer und Brandverletzte zum Austausch zusammen zu bringen. Vanessa und ihre Mitstreiter aus der Selbsthilfegruppe sammeln auch Geld und schicken Hilfspäckchen für Betroffene in Länder ohne ausreichende Gesundheitsversorgung - nach Brasilien zum Beispiel, Bangladesch und Indien.
    "Das ist Molkebad, das ist eigentlich für Babys, das ist ganz gut für frische Narben, um den PH-Wert aufrecht zu erhalten. Das ist 'ne Körperkompression und 'ne Maske, um die Narben runterzudrücken. Meistens lege ich dann noch 'nen Flyer rein. Und dann gibt es für eine Betroffene noch 'ne schöne Kompression."
    Psychologische Unterstützung für andere Betroffene
    Münstermann sagt, sie habe von Anfang an großen Rückhalt von ihrer Familie und ihren Freunden erfahren. Mit "AusGezeichnet" will sie etwas davon zurückgeben, auch psychologische Stütze sein für Betroffene wie Angehörige.
    Sie lebt jetzt wieder im Haus der Eltern. Ihr Wunsch ist, bald wieder eigenständig leben, wieder arbeiten zu können. Sie schreibt ein Buch, das bald erscheinen soll. Und dann ging da noch dieser Traum in Erfüllung: Sie hat eine neue Liebe gefunden, mit ihrem neuen Freund erwartet sie ein Baby.
    "Wenn man aufwacht mit Krusten und entstellt ist und man der festen Überzeugung ist, nie wieder intim zu werden - und dann wirklich wieder mit einem Mann so intim wird, der auch die andere Seite abküsst, und sagt: 'Ich liebe Dich so wie Du bist!' , weiß ich nicht, kann man mehr Glück haben im Leben?"