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Verein für Hartz-IV-Empfänger
Lobbyist für die Armen

Hartz IV ist in Deutschland keine Randerscheinung, sondern ein Massenphänomen. Rund 14,5 Millionen Menschen sind betroffen. Doch diese Gruppe fühlt sich oft ungesehen, hilflos und abgehängt. Ulrich Wockelmann will das ändern. Er hat einen Verein gegründet – um genau diesen Menschen eine Stimme zu geben und zu helfen.

Von Moritz Küpper | 10.11.2016
    Ulrich Wockelmann, Gründer des Vereins "aufRecht e. V.", der sich in Iserlohn im Sauerland für Hartz-IV-Empfänger einsetzt.
    Ulrich Wockelmann, Gründer des Vereins "aufRecht e. V." (Deutschlandradio / Moritz Küpper)
    Es ist erst früher Nachmittag, doch das Problem kann nicht warten:
    "Dass ich morgen schon raus soll, ich habe das heute erst gekriegt."
    "Das kann ja nicht sein."
    Eigentlich beginnt Ulrich Wockelmanns Sprechstunde in Iserlohn erst um 14 Uhr. Zweimal in der Woche nimmt er sich hier, in den Büroräumen, die ihm die Partei Die Linke zur Verfügung stellt, Zeit. Zeit für Menschen, die am Existenzminimum leben und drohen unterzugehen, in der undurchsichtigen Flut von Anträgen, Bescheiden oder eben Kündigungen. Wie an diesem Tag: Bereits eine halbe Stunde vor Sprechstundenbeginn sitzt eine Frau, geschätzt Ende 50, vor Wockelmanns Schreibtisch. In der Hand hält sie die fristlose Kündigung ihres Mietvertrages:
    "Der steht morgen um zehne bei mir vor der Tür und will den Schlüssel haben. Wie soll ich das alles machen? Das geht gar nicht."
    "Nein, das geht auch nicht."
    Wockelmann muss erst einmal beruhigen – und sich dann ein Bild von der Situation machen:
    "Auf dem Postweg ganz normal?"
    "Nein, das hat mir der Hausverwalter oder wer auch immer, ich kenne ihn nicht, in die Hand gedrückt."
    Wockelmann schaut noch einmal auf das Dokument:
    "Zwei Mieten Rückstand reicht heute, um die Leute auf die Straße zu setzen."
    Nur wer klagt, hat eine Chance
    Der 61-Jährige schüttelt den Kopf, sein mächtiger weißer Bart bebt. Wockelmann trägt ein schwarzes T-Shirt. "aufRecht e. V." steht darauf. Es ist der Name des im Jahr 2009 von ihm gegründeten Vereins – und sagt viel über dessen Idee aus:
    "Viele Leute kommen gebeugt zu uns. Und meine Aufgabe ist es, dass sie aufrecht wieder gehen können."
    Es ist diese letztendlich simple Maxime, nach der Wockelmann handelt: Er selbst lernte einst Modelltischler, arbeitete einige Jahre in diesem Beruf, bevor er zum Fachinformatiker umschulen musste, aber keinen Job fand. Hinzu kam eine Scheidung. Wockelmann lebt nun von Hartz IV – und hat in "aufRecht e. V." seine Berufung gefunden:
    "Also, das Selbstwertgefühl zu stärken, die Arbeitsleistung zu würdigen. Was macht es für einen Sinn, wenn eine Mutter kommt und sagt: Ich habe in meinem Leben nie gearbeitet, ich habe nur vier Kinder aufgezogen."
    Der freundliche Mann lacht gequält – seine Stimme schlägt um, in Sekundenbruchteilen wird er wütend:
    "Das ist doch völlig dumm. Das ist doch einfach nur dumm."
    Und dagegen kämpft er nun. Mehr als 500 Menschen hat Wockelmann schon zu Gesprächen ins Jobcenter begleitet, sich Nächte um die Ohren geschlagen, um Bedürftigen zu orthopädischen Schuhen zu verhelfen, zu Brillen oder Zahnersatz. Nur wer klagt, habe eine Chance, beschreibt Wockelmann die Welt der Sozialhilfe-Empfänger. In Deutschland gebe es zwar ein soziales System, heißt es immer, seine Erfahrung ist jedoch, "dass die Beratung in den Jobcentern zwar auf die Pflichten hinweist. Also: Fordern und Fördern. Das Fordern wird sehr stark unterstrichen, aber die Fördermöglichkeiten werden vielen Leuten unterschlagen."
    Armut habe keine Lobby, so Wockelmanns Erkenntnis. Dem örtlichen Jobcenter ist der Verein "aufRecht e. V." ein Dorn im Auge, er selbst sieht sich als eine Art Guide durch den Dschungel von Anträgen, Bescheiden oder eben Kündigungen.
    Immer mehr Menschen schaffen es nicht, aus Hartz IV herauszukommen
    Auch Timo Saul ist Berater, 47 Jahre alt, seit 2010 aktiv. Verweigerung von Stromdarlehen, Begleitung zum Arbeits- oder Sozialamt, das sind aktuell seine Themen:
    "Ich begleite derzeit sieben bis acht Leute und davon sind alleine drei Leute von einer fristlosen Kündigung betroffen, seitens des Vermieters. Bei einigen ist es so, dass das Jobcenter zwar die Miete zahlt, aber der Vermieter verweigert die Annahme des Geldes. Das heißt: Er besteht auf einer Barauszahlung, verweigert aber die Annahme."
    Kein seltener Fall. Genauso wie Saul lebt auch Wockelmann selbst von Hartz IV.
    Wockelmann: "Ich lebe von Hartz IV, arbeite viel und wenn ich arbeite, kann ich kein Geld ausgeben."
    Wer Wockelmann in Iserlohn länger zuhört, kommt zu dem Schluss, dass das System krankt, dass es verändert werden müsse. Denn: Wenn immer mehr Menschen keine Chance haben, jemals aus Hartz IV wieder rauszukommen, dann berge das sozialen Sprengstoff:
    "Die Bedrohung ist nicht die einzelne Bombe, die irgendwo gezündet wird oder wenn Leute durchdrehen. Diese Politik mit der Existenzbedrohung, die immer mehr zunimmt, immer mehr forciert wird, wird einfach die Verzweiflung bis zum Knallen bringen."
    Immer häufiger gebe es Angriffe auf Mitarbeiter der Jobcenter. In vielen sei mittlerweile Sicherheitspersonal angestellt. Für Wockelmann Ausdruck dieser zunehmenden Verzweiflung:
    "Man könnte ja Statistiken erheben über die Zunahme von Gewaltbereitschaft in Behörden. Man könnte Untersuchungen angehen über Zusammenhänge mit dieser riesigen Dunkelziffer von Suiziden."
    Probleme sind oft nur aufgeschoben
    Denn letztendlich hänge alles mit allem zusammen. Mittlerweile ist auch Lars Schulte-Bräucker eingetroffen. Der 44-jährige Rechtsanwalt unterstützt den Verein seit fünf Jahren. Er ist spezialisiert auf Sozialrecht, berät ehrenamtlich und sieht in seinem Engagement eine soziale Verpflichtung:
    "Man hat eine soziale Verantwortung und wie oft wir den Leuten schon geholfen haben. Also, da waren Leute wirklich psychisch total krank. Wenn die dann aber merken, dass sie da Erfolg haben, mit ihren Sachen, dann baut das viele auch schon wirklich auf."
    Gemeinsam mit Wockelmann schaut er sich die fristlose Kündigung des Mietvertrages an, den die Frau an diesem frühen Nachmittag mitgebracht hat. Die beiden können Entwarnung geben:
    "Sie muss morgen nicht ausziehen, weil die Forderung, die der Vermieter da gestellt hat, einfach zu hoch ist. Es muss eine schriftliche Kündigung erfolgen, dann muss die eventuell gerichtlich durchgetragen werden und die Räumung muss mit einer Schonfrist verbunden sein."
    Doch damit ist das Problem nur aufgeschoben: "Kurzfristig geklärt, dauerhaft bleibt natürlich ein Rattenschwanz von Schulden. Das belastet die Leute am Existenzminimum über die Maßen noch dazu."
    Und bleibt letztendlich ein Teufelskreis – aus dem auch Ulrich Wockelmann aus Iserlohn nicht immer einen Ausweg weiß.