Freitag, 29. März 2024

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Verena Güntner: "Power"
Verwilderte Kinder, ratlose Eltern

Ein Dorf gerät in Unruhe. Erst verschwindet ein Hund, dann die gesamte Dorfjugend. Denn alle Kinder folgen plötzlich einem elfjährigen Mädchen in den Wald, das keine Erwachsenenregeln mehr akzeptiert.

Von Eva Pfister | 15.04.2020
Porträt der Autorin und Schauspielerin Verena Güntner.
Schreibt auch erfolgreich Romane: Die Theaterschauspielerin Verena Güntner (Dumont Verlag / Stefan Klüter)
"Power" ist verschwunden. So heißt groteskerweise das niedliche Schoßhündchen von Frau Hitschke. Sie ist verzweifelt. Denn nach dem plötzlichen Verschwinden ihres Ehemanns hat Power sie vor der Einsamkeit bewahrt. Das 11jährige Mädchen Kerze verspricht Frau Hitschke, ihren Hund zu suchen. Auch "Kerze" ist ein unpassender Name, aber den hat sich das Mädchen selbst ausgesucht. Überhaupt bestimmt Kerze ihr Leben selbst, von der alleinerziehenden Mutter nimmt sie keine Anweisungen oder Ratschläge an. Ganz anders hingegen der Sohn der reichen Bauers Huber, der vollständig unter der Knute seines brutal-autoritären Vaters steht. Nur selten wagt Markus, selbständig etwas zu unternehmen, und wenn, dann geht es meistens schief. Im Stillen trauert er um seine Mutter, die irgendwann aus seinem Leben verschwunden ist.
Ein namenloses Dorf, weitab vom Schuss
Das Leben der drei Hauptfiguren in Verena Güntners neuem Roman "Power" ist von Verlassenheit geprägt. Trost finden sie wenig in ihrem namenlosen Dorf. Denn dessen Bewohner sind entweder brutal und hartherzig - oder gleichgültig. So wie Kerzes Mutter, die sich mit den Alleingängen ihrer Tochter abgefunden hat und abends vor dem Fernseher einschläft. Von Kerzes Vater ist sowieso nie die Rede. Kein Wunder, dass das Mädchen nachts mit Geistern zu kämpfen hat:
"In ihrem Zimmer öffnet Kerze das Fenster. Sie öffnet nachts immer das Fenster, egal, ob es schneit oder regnet, kalt ist oder stürmt. Sie macht das, weil sich sonst die Geister in ihrem Zimmer versammeln. An ihrem fünften Geburtstag sind sie das erste Mal aufgetaucht und kommen seitdem immer wieder. Sie tun Kerze nichts, stehen nur stumm um ihr Bett herum und schauen sie an."
Aber Kerze überwindet jede Angst und jedes Hindernis. Täglich streift die Elfjährige durch den Wald und imitiert Hundegebell, in der Hoffnung, dass der entlaufene "Power" darauf reagiert. Als die Schulferien beginnen, schließen sich ihr weitere Kinder an, und bald leben alle Jugendlichen des Dorfes wie ein Wolfsrudel im Wald.
Die Kinder leben wie Wildtiere im Wald
Verena Güntner hat mit ihrer 11jährigen Romanheldin eine faszinierende und zwiespältige Figur geschaffen, eine Art Rote Zora, die als Anführerin ihre Kinderschar mit harter Hand führt und für das Überleben in der Wildnis trainiert. Sie müssen im Laub schlafen, Beeren und Tannenzapfen essen und dürfen sich nur auf allen Vieren fortbewegen:
"Kleine Wunden werden mit Pflaster versorgt, dann geht es weiter. An den ersten beiden Tagen gibt es viele, die abbrechen wollen. Manche heulen, bis ihnen der Rotz aus der Nase läuft. Auch Kerzes Hände sind am vierten Tag bis aufs Fleisch aufgerissen, trotzdem gibt sie die ganze Zeit über nicht einen Laut von sich. Stumm, die Zähne, aufeinandergebissen, treibt sie die Gruppe vorwärts und führt sie tiefer und tiefer in den Wald hinein. Denn sie weiß, es wird besser werden. Sie werden sich an die Schmerzen gewöhnen, bis sie auf ein erträgliches Maß schrumpfen und schließlich ganz vergehen. Nichts bleibt so schlimm, wie es am Anfang scheint, das weiß sie, das hat sie erlebt."
Was Kerze genau erlebt hat, lässt die Autorin – wie so vieles - im Dunkeln. Einfühlsam schildert sie zwar die Innenwelt des Mädchens, das sich vor Gefühlen abschottet und alles unter Kontrolle haben will. Dennoch ist der Roman keine realistische Coming-of-Age-Geschichte. Dafür ist die Handlung zu unwahrscheinlich. Kerze entwickelt sich im Wald zu einer despotischen Bandenchefin; ihre kindlichen Anhänger werden zu schlagkräftigen Naturwesen, die sogar eine Abordnung erwachsener Männer vertreiben, die sie zurückholen wollen.
Die Erwachsenen haben nichts mehr zu sagen
Einem Dorf geht also die junge Generation verloren! Verena Güntners Roman "Power" lässt sich durchaus als Parabel auf die heutige deutsche Provinz lesen, auf die vielen sterbenden Dörfer, in denen kein Gemeinschaftssinn mehr existiert. Ein einziger Großbauer bewirtschaftet im Roman die umliegenden Felder. Er lässt Erntehelfer aus Polen und Bulgarien kommen, beutet sie brutal aus und hält sie mit einem Rottweiler in Schach. Noch gibt es zwar eine Schule, einen Supermarkt, eine Kneipe und eine Kirche. Aber nur noch selten findet ein Gottesdienst statt. Und einen Bürgermeister gibt es auch nicht mehr. Wenn die Hitschke aus dem Fenster schaut, bietet sich ihr ein Bild der Verwahrlosung:
"Die Heilandstraße liegt weiter vorn im Dunkeln, die Laternen sind vor sechs Monaten ausgefallen, niemand hat sie seither repariert. Der Boden ist voller Schlaglöcher, die Steine der Bordsteige sind an vielen Stellen schräg abgewalzt. Dass sich keiner mehr für ihr Dorf interessiert, hat ihr lange Zeit ein gutes Gefühl gegeben. So war sie nicht die Einzige, der das passiert."
Eine Parabel auf die Generation Greta?
Die Autorin und Schauspielerin Verena Güntner schreibt spannend, mit einem sicheren Gefühl für Wirkung und Effekte. Sie führt uns eine Gesellschaft vor Augen, in der sensible Menschen untergehen oder verhärten. Mit unabsehbaren Folgen, wie etwa der, dass die junge Generation alle zivilen Errungenschaften ablehnt. Das hat viel mit Tendenzen unserer Gegenwart zu tun. Dennoch fällt es schwer, in "Power" einen politischen Gesellschaftsroman zu sehen. Dazu ist der Mikrokosmos des Dorfes zu holzschnittartig ausgeführt, die handelnden Personen werden zu radikal in Gut und Böse unterteilt. Und auch der Wald als mythisch-archaischer Ort verweist auf den Märchencharakter des Buches: Das Märchen von der verlorenen Jugend in einer kalten Welt.
Verena Güntner: "Power".
DuMont Verlag, Köln.
254 Seiten, 22 Euro.