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Verena Lueken "Anderswo"
Aufdröselung eines verpassten Lebens

Verena Lueken arbeitete als Kulturkorrespondentin in New York und schrieb Bücher über die Stadt, die niemals schläft. In ihrem neuen Roman "Anderswo" begleitet sie eine Frau auf der Suche nach ihrem Vater und den Geheimnissen seines Lebens.

Von Shirin Sojitrawalla | 27.04.2018
    Ein Grablicht zu Allerheiligen im Herbst mit Blättern
    In "Anderswo" erzählt Verena Lueken von der Suche ihrer namenlosen Protagonistin nach der Vergangenheit ihres verstorbenen Vaters (imago/McPHOTO)
    Spätestens wenn die Eltern sterben, verlebendigt sich die eigene Kindheit in ungeahnten Ausmaßen. Alles, was war, kommt auf den Prüfstand. Jetzt gilt es, Ordnung zu schaffen im Kinderzimmer und alles rauszuwerfen, was streng riecht und kratzt. Im Falle der Hauptfigur in Verena Luekens neuem Roman ist es der Vater, der stirbt und seiner Tochter einige unaufgeräumte Zimmer hinterlässt. Unausgesprochenes hängt in der Luft, wahlweise wie eine Drohung oder wie ein Versprechen. Doch es vergehen viele Jahre, bis die Tochter beginnt, sich seiner zu erinnern:
    "Sie war Anfang dreißig, als ihr Vater starb. Von all den Ungeheuerlichkeiten, die sie in seinem Leben vermutete, hatte sie kaum etwas miterlebt, und fast nichts war ihr erzählt worden. Er starb in der Nacht, in der sie in derselben Stadt lebte, aber nicht an seinem Bett saß. In den Jahren zuvor war sein Zittern immer heftiger geworden, so war es ihr vorgekommen. Ein paar Mal hatten sie sich noch gesehen. Einmal fast vertraut. Er hatte gesprochen, sie hatte zugehört, eine oder zwei Stunden lang. Das war es gewesen."
    Dass man den eigenen Vater verpassen kann wie einen Omnibus gehört zu den traurig tröstlichen Gewissheiten dieses ungewöhnlichen Romans. Die Frau im Zentrum lebt ein Leben im Provisorium. Sie arbeitet als Reporterin für verschiedene Hochglanzmagazine, schreibt Reisegeschichten über entlegene Weltgegenden. Ledig, kinderlos, allein lebend, Migränikerin. Hätte sich das ein Mann ausgedacht, könnte man fast böse Absichten unterstellen. Aber das nur am Rande.
    Ethnologin des eigenen Lebens
    Ein paar Gemeinsamkeiten teilt die Protagonistin mit der Autorin Verena Lueken, die Liebe zur Schriftstellerin Joan Didion etwa, das zeitweise Leben in New York, aber auch die Ausbildung zur Tänzerin. Das sei hier aber nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Ob Verena Lueken auch anderes selbst erlebt hat, fragt man sich natürlich beim Lesen unwillkürlich und schämt sich sofort dafür, ist doch die Verwechslung von Autorin und Erzählerin zu Recht verboten. Wie dem auch sei, von Joan Didion jedenfalls stammt auch das Credo der Hauptfigur: Niemand kommt jemals über irgendwas hinweg. In gewisser Hinsicht beweist Verena Lueken mit ihrem Buch dann das Gegenteil.
    Die namenlose Hauptfigur dröselt das Leben ihres Vaters Friedrich peu à peu auf, beginnt bei seiner Geburt, seiner Erziehung, seiner Schulzeit. Dabei versucht sie, sich an die Fakten zu halten und füllt die Leerstellen mit Fiktion. Sie imaginiert sich das Leben ihres Vaters, setzt es aus verschiedenen Bausteinen, Erinnerungen, Bildern zusammen. Ihr Vater war ein Mann der 60er-Jahre und einer, dem der Krieg die Lebensplanung verhagelte.
    Verena Lueken lässt in ihrer knappen Schilderung der Nachkriegszeit auch die Glücksversprechen und Sorglosigkeiten der jungen BRD nicht außer acht:
    "In seinem Chemiekonzern verkaufte Friedrich nicht irgendein Produkt. Er verkaufte ein Versprechen, eine Illusion. Farben. Rot und Blau. Das Licht, das in ihnen schimmerte. Die Wärme, ihre Schönheit. Sie hatte sich nie die Töpfe mit den Farben vorgestellt, nie die toxischen Dämpfe in den Fabriken und später die Gifte im Grundwasser. Sie hatte immer nur an die Farben gedacht, an das Glück und an die fröhliche Welt, die sie versprachen. Blau. Das machte ihr Vater. Wenn sie mit dem Pinsel das Azurblau aus ihrem Wasserfarbenkasten löffelte und ein ganzes Blatt damit beschmierte, bis es aussah wie ein Stück Himmel, versuchte sie, es ihm gleichzutun. Ungleichmäßig, aber blau."
    Leinwandtaugliche Bilder
    In mancherlei Hinsicht ist dieser Roman ein bewegendes Vaterbuch geworden, das den rätselhaften Mann inspiziert wie einen liegen gebliebenen Wagen, wobei Verena Lueken stellenweise Ähnliches gelingt wie der französischen Autorin Annie Ernaux mit ihrem grandiosen Buch "Die Jahre". Etwa wenn die Erzählerin ihren Vater mit dreien der von ihm gern und oft verwendeten Wörter charakterisiert: "Kokolores. Marschmarsch. Kasino." Kasino mit K, versteht sich.
    Diese Worte illustrieren nicht nur die Erinnerung an den Vater, sie sind auch Ausdruck einer Zeit, die in die Jahre gekommen ist. Als Ethnologin ihrer selbst bezeichnet sich Annie Ernaux. Dasselbe könnte man von Luekens Protagonistin sagen, die sich und ihre Herkunft erforscht wie einen unbekannten Kontinent. Dabei zeichnet der Roman nicht nur das Leben des Vaters nach, sondern auch das seiner Tochter. Gekonnt schneidet Lueken diese beiden Biografien ineinander, so wie sie das Leben ineinander geschnitten hat. Die Tochter führt ein unstetes Dasein, verdingt sich erst als Objekt der Begierde in einer Peepshow im Bahnhofsviertel, ankert dann beim Trompeter Claudio, dem sie nach Philadelphia folgt. Dabei entwirft Lueken immer wieder Bilder, die aus dem Kino stammen könnten. Das mag an den amerikanischen Landschaften liegen, an ihrer Arbeit als Filmkritikerin und/oder ganz allgemein an ihrer Liebe zum Film.
    Es sind Bilder, die bigger than life daherkommen, die den Himmel weiter spannen, die Wirklichkeit verführerischer formen als das Leben selbst. Etwa in dieser Szene am Ende des Buches, das die Hauptfigur nach Südafrika führt, wo die Geschichten ihres Vaters und ihr eigenes Fernweh zusammenlaufen:
    "Die Männer hatten sie beobachtet. Ohne zu zögern, kamen sie angerannt, während sie das Bewusstsein verlor. Vorsichtig hoben sie sie aus dem Auto und legten sie auf den Billardtisch, den sie in den Schatten nah am Haus schoben. Sie hatten ihren Hut mitgenommen und neben sie gelegt, ihr Gesicht mit Wasser beträufelt und ihre Lippen befeuchtet. Von dem Packen Wäsche auf dem polierten Couchtisch beim Laster, den sie noch nicht aufgeladen hatten, hatten sie ein großes Tischtuch geholt und zusammengerollt unter ihren Kopf geschoben. Jetzt standen sie da, Moodley in ihrer Mitte, und warteten, dass sie ein Lebenszeichen von sich gab. Darauf, was sie sagen würde."
    Zu den inszenierten Filmbildern fügt es sich natürlich bestens, dass die Protagonistin von Albträumen heimgesucht wird, die wie aus einem Mafiafilm geschnitten wirken.
    Zum Ende hin zerfasert der Stoff
    Wie schon in ihrem ersten Roman "Alles zählt" erweist sich Verena Lueken auch diesmal als ausnehmend bewegliche Autorin, die der späten Nähe zum Vater eindringlich nachspürt. Das aussichtslose, aber nicht vergebene Ringen um die Liebe der eigenen Eltern schildert sie ebenso erfahrungsgesättigt wie behutsam. Zum Ende hin zerfasert ihr der Stoff leider ein bisschen, zu viele Baustellen scheinen auf, das Zentrum verliert sich. Interessanterweise war das in ihrem ersten Roman ganz ähnlich. Im neuen Roman wiederum passt es zur Arbeitsweise der Hauptfigur, die als Reporterin immer wieder kleine Szenen, Schnipsel, so genannte Outtakes sammelt, um später womöglich einmal etwas Neues daraus zu formen. Ganz so, wie unsere Erinnerungen in der Lage sind, Geschichten aller Art zu spinnen.
    Verena Lueken: "Anderswo". Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 233 Seiten, 20 Euro.