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Verena Zimmermann: "Den neuen Menschen schaffen". Die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Jugendlichen in der DDR.

Das Titelbild des Buches könnte auf eine falsche Fährte locken: Vor einer entfalteten Fahne posiert ein nur mit einer Turnhose bekleideter Jüngling in Riefenstahlscher Manier: Er strotzt vor Kraft, Dynamik und lebensfroher Zuversicht. Nur die Aufschrift auf der Fahne hält den Leser davon ab, hier einen Hitlerjungen oder auch einen Komsomolzen erkennen zu wollen, denn die Fahne ziert die Aufschrift "FDJ". Das Bild stammt von einem Plakat aus dem Jahre 1946 mit dem Titel "Gesunde Jugend schafft ein neues Deutschland!"

Von Henry Bernhard | 14.06.2004
    Ein neues Deutschland sollte wieder einmal geschaffen werden – natürlich von einem "neuen Menschen"! Im 20. Jahrhundert, dem Zeitalter der großen Ideologien, waren die Entwürfe so strahlend wie totalitär: Immer ging es um das Ganze, das Große, das Allumfassende. Wer dazugehörte zum neuen Menschheitsentwurf, bestimmten die jeweiligen Machthaber; im Namen der Ideologie ließen sie Menschen ermorden, deportieren oder umerziehen.

    So gesehen kamen die schwererziehbaren und straffälligen Jugendlichen in der DDR noch glimpflich davon, deren Schicksal Verena Zimmermann in ihrem Buch schildert. Aber soziale Jugendfürsorge in der DDR galt dem Einzelnen immer als Teil eines Kollektivs, in dem er funktionieren sollte. Scheiterten die Bemühungen, konnte Fürsorge sehr schnell in totale Kontrolle und rohe Gewalt umschlagen. Dies ausführlich belegt zu haben, ist das Verdienst von Verena Zimmermanns Dissertationsschrift "Den neuen Menschen schaffen. Die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Jugendlichen in der DDR".

    DDR-Jugendgesetz von 1974:
    Vorrangige Aufgabe bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft ist es, alle junge Menschen zu Staatsbürgern zu erziehen, die den Ideen des Sozialismus treu ergeben sind, als Patrioten und Internationalisten denken und handeln, den Sozialismus stärken und gegen alle Feinde zuverlässig schützen. Die jungen Menschen sollen sich durch Eigenschaften wie Verantwortungsgefühl für sich und andere, Kollektivbewusstsein und Hilfsbereitschaft, Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit, Ehrlichkeit und Bescheidenheit, Mut und Standhaftigkeit, Ausdauer und Disziplin, Achtung vor den Älteren, ihren Leistungen und Verdiensten sowie verantwortungsbewusstes Verhalten zum anderen Geschlecht auszeichnen.


    Eine Art sozialistischer Supermann war also das Ideal, dem die DDR-Jugend folgen sollte. Mit geradezu kindlicher Naivität verfochten die SED-Funktionäre der frühen Jahre die Idee, dass die sozialistischen Verhältnisse den Humus bildeten, aus dem der neue Mensch quasi von allein hervorgehen sollte. Wer von diesem Ideal abwich, musste von außen – also vom Westen, vom "Klassengegner" – negativ beeinflusst worden sein.

    Die Grenze zwischen "normalem" Jugendverhalten, der Abgrenzung von der Welt der Erwachsenen durch Frisur, Kleidung oder Musik und Delinquenz war schwammig und zeigt einmal mehr, dass das, was in der DDR als abweichendes Verhalten galt, oft willkürlich festgesetzt worden war.

    Also letztlich "auffälliges Verhalten" konnte alles sein. Also gerade beim Rowdytum sieht man das sehr schön: Die sind dann sehr schnell in so ne Ecke abgedrängt worden: Vom Westen beeinflusst, vom Westen gesteuert – und haben dann sehr schnelle Haftstrafen verbüßen müssen. Es ist auch ein eigenes, so ne Art Arbeitslager für Jugendliche in Rüdersdorf bei Berlin eingerichtet worden, wohin die Jugendlichen auch ohne Gerichtsverfahren sofort nach einem Vorfall hingekarrt wurden und dann mehrere Wochen festgehalten worden ohne jegliche rechtliche Grundlage.

    In den 50er Jahren waren es die "Eckensteher" und "Rowdys", die RIAS hörten, die Polizei anpöbelten und so genannte Schund- und Schmutzliteratur lasen. In den 60er und 70er Jahren die "Gammler" und "Hippies", die Niethosen trugen, Beatmusik hörten und ihre Haare lang wachsen ließen. In den 80ern waren es Punks und Skinheads, die durch Kleidung und Symbolik das propagierte Bild vom neuen Menschen negierten und die spießbürgerliche SED-Idylle provozierten.

    Was im Westen aber – nicht ohne anfängliche Bauchschmerzen – als normaler Jugendprotest und aufmüpfiger Ausdruck der Pubertät verstanden oder zumindest toleriert wurde, wurde in der DDR schon als Vorstufe zur Kriminalität gesehen. Dabei wusste sich die Erziehungsdiktatur durchaus im Einklang mit dem Volk:

    Also es gab schon einen gewissen Konsens zwischen Bevölkerung und Politbüro, was die Verfolgung von Asozialen, Pennern, renitenten Jugendlichen usw. betraf, also man hat ganz bewusst darauf gesetzt, dass solche Leute von der Straße wegkommen. Also Ordnung, Disziplin, Sauberkeit, das waren schon Werte, die man sehr hochgehalten hat und die auch in der Bevölkerung vertreten wurden dann auch.

    Wegen "asozialer Lebensweise" verurteilte Jugendliche kamen in Jugendarrest, ins Arbeitslager, ins Jugendhaus, ins Arbeitshaus oder in ein Arbeitserziehungskommando; auf unbestimmte Zeit oder verurteilt zu einer Haftstrafe, nur, um eines der schlimmsten Vergehen der "Arbeitsgesellschaft" DDR zu ahnden: die Arbeitsverweigerung. Verena Zimmermann hat diese mannigfaltigen Möglichkeiten für Sanktionen und Strafen in ihrer Vielfalt und in ihrem zeitlichen Aufeinanderfolgen erstmals differenziert dargestellt. Sie zeigt auch, wie der anfänglich nahezu unbegrenzte Glaube an die Erziehungsfähigkeit des Menschen einer pragmatischen Sicht wich.

    Die "sozialistische Menschengemeinschaft" blieb gerade in der Frage der Integration dieser Personen, die aus der "Normalbiographie" herausfielen, in weiten Teilen Illusion.

    Man hatte den Anspruch auf Erziehung. Also Erziehung war sozusagen vorrangig. Bloß in der Praxis sah das natürlich anders aus. Es ist eben dann sehr schnell dadurch, dass die Gesellschaft sehr wenig offen war auch für neue Möglichkeiten, immer abgedriftet dann in so sehr repressive Maßnahmen. Also man ist sehr schnell im Heim gelandet oder ist dann stationär eingewiesen worden. Also so ambulante, offene Maßnahmen, wie es dann in der Bundesrepublik ab den 70er Jahren gab, gab’s dann in der DDR nicht. Also da hat einfach die Offenheit gefehlt.

    Dem Volksbildungsministerium, zuständig für die gesamte Jugendhilfe, war dabei die eigene Ideologie im Wege: Wer psychologische und soziale Ursachen für Kriminalität und abweichendes Verhalten ignorierte und diese Erscheinungen als "dem Sozialismus wesensfremd" erklärte, kam nicht weit mit seinen Erklärungsansätzen.

    Na ja, der Anspruch ist schon sehr hoch – den neuen Menschen schaffen – also das ist schon ein sehr utopischer Anspruch! Und im Bereich der Jugendhilfe war es so, dass das Personal schlecht qualifiziert war, also man hat Erzieher oft aus der Volksbildung abgeschoben in die Bereiche Jugendhilfe. Auch die Erzieherausbildung: Es gab viele Erzieher, die nur so eine Kurzausbildung hatten und die auf diese schwererziehbaren Kinder und Jugendlichen gar nicht vorbereitet waren, also die schlichtweg überfordert waren mit dieser Klientel.

    Die Jugendwerkhöfe, eine Spezialform der Heime in der DDR, waren noch schlimmer als die "normalen" Kinder-, Jugend- und Spezialheime: In ihnen sollten Jugendliche, mit denen Familien, Schulen, Kinderheime oder Ärzte nicht mehr klarkamen, umerzogen werden. In die Jugendwerkhöfe wurde eingewiesen, wer kleinere Diebstähle begangen hatte, wer sich herumtrieb oder Schule schwänzte, wer verwahrlost erschien oder schwul war, wer antisowjetische Haltungen einnahm oder als Schläger bekannt war. Dazu kamen Jugendliche, deren "Erziehungsprozess" trotz verbüßter Haftstrafe nach Ansicht der Jugendhilfe noch nicht abgeschlossen war. Der Jugendwerkhof als eine Art Schutzhaft. Ein richterlicher Beschluss war dazu nicht nötig, die Dauer des Aufenthaltes war unbestimmt, im Schnitt waren es 1½ bis 2 Jahre. Drinnen erwarteten die Jugendlichen militärischer Drill, Demütigungen, Gewalt und politische Indoktrination. All dies fand seine verschärfte Form im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Hierher kamen die, die aus anderen Jugendwerkhöfen oder Heimen geflohen waren. Es ging nicht mehr darum, ihren Charakter zu formen, sondern ihn zu brechen.

    Verena Zimmermann schildert in ihrem Buch, wie personelle und räumliche Zwänge im Zusammenspiel mit ideologischer Enge dazu führten, dass Jugendliche aus schwierigen familiären Verhältnissen herumgestoßen wurden, in Isolierzellen landeten und mit Medikamenten ruhig gestellt wurden. Aus dem hehren Ideal der Kollektiverziehung wurde hier die reine Form des klassischen "divide et impera": Die Jugendlichen unterdrückten sich gegenseitig und lernten, worauf es im Staate ankam: sich unterzuordnen, zu heucheln und opportunistisch den hohlen Phrasen der SED zu folgen: Der "neue Mensch" entstand so ganz gewiss nicht, sondern eine rotlackierte Version des Heinrich Mannschen Untertanen.

    Die durchaus präzise Analyse der Realitäten und Rahmenbedingungen in der Jugendfürsorge wäre noch besser abgerundet, wenn die in genauer dargestellt hätte, wie sich die Gleichschaltung der Jugend mit aller Macht in den allumfassenden Herrschaftsanspruch der SED einordnete. Hervorzuheben ist aber auch, dass Verantwortlichkeiten auf mittlerer und unterer Ebene genau benannt und nicht an gesichtslose Partei- oder Geheimdienstinstanzen delegiert werden.

    Das Buch "Den neuen Menschen schaffen" legt anschaulich dar, wie die Jugendfürsorge in der DDR die obrigkeitsstaatlichen deutschen Traditionen weitergeführt hat. Es beschreibt verlorene Jahre für Tausende problembeladene Jugendliche, die nicht therapiert, sondern zu Versuchskaninchen im kommunistischen Großversuch wurden. Und es zeigt, wo einige der Wurzeln einer Intoleranz liegen, die noch heute in der Ablehnung alles Fremden, Offenen und Andersartigen in breiten Kreisen der ostdeutschen Bevölkerung erkennbar ist.

    Henry Bernhard über Verena Zimmermann: "Den neuen Menschen schaffen" Die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Jugendlichen in der DDR". Veröffentlicht im Böhlau Verlag Köln und Weimar, 435 Seiten für 39 Euro und 90 Cent.