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Verfahrensfehler
Weiterer Mann zu Unrecht abgeschoben

Im Februar 2017 lehnten die Behörden den Asylantrag von Nasibullah S. ab, wogegen er Widerspruch einlegte. Eine Entscheidung darüber ist noch nicht getroffen - trotzdem ließ ihn die Ausländerbehörde nach Kabul abschieben. Ein "Verfahrensfehler", so das Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern.

Von Silke Hasselmann | 18.07.2018
    Das Bild zeigt ein Flugzeug am Himmel, im Vordergrund ist Stacheldraht zu sehen.
    Nasibullah S. wurde Anfang Juli mit 68 weiteren Afghanen per Charterflug nach Kabul abgeschoben (picture-alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Auch in Mecklenburg-Vorpommern unterhält das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eine Außenstelle, genauer gesagt in der Erstaufnahmeeinrichtung Norstorf/ Horst in Westmecklenburg. Dort hatte man sich auch mit dem Asylantrag von Nasibullah S. beschäftigt, der nach eigenen Angaben im November 2015 über die damals noch offene Balkanroute nach Deutschland gekommen war und einen Monat später Asyl beantragte.
    Der seinerzeit 17jährige gab an, durch die Taliban bedroht zu werden. Die Radikalislamisten hätten ihn beschuldigt, sich mit Ungläubigen getroffen und mit der Regierung in Kabul zusammengearbeitet zu haben. Nachdem drei Taliban-Kämpfer durch die afghanische Armee erschossen wurden, hätten sie ihn dafür verantwortlich machen wollen und gesucht, woraufhin er geflohen sei, so Nasibullah S.
    Bis heute keine Entscheidung des Verwaltungsgerichtes
    Das BAMF überprüfte die Angaben so weit wie möglich und lehnte den Asylantrag im Februar 2017 ab. Damit war der afghanische Mann, der in einem Asylbewerberheim in Neubrandenburg untergebracht war, ausreisepflichtig. Doch Nasibullah S. legte Widerspruch beim zuständigen Verwaltungsgericht Greifswald ein. Das hat bis heute keine Entscheidung getroffen. Erst für die zweite Juliwoche war ein Verhandlungstag angesetzt.
    Doch schon in der Woche zuvor am 3. Juli agierte die Ausländerbehörde Neubrandenburg, die für die sogenannten "aufenthaltsbeendenden Maßnahmen" im Landkreis zuständig ist. Mit Hilfe der Landespolizei Mecklenburg-Vorpommern sorgte sie dafür, dass der heute 20-Jährige aus seiner Unterkunft geholt und zum Flughafen Frankfurt/Main gebracht wurde, um mit 68 weiteren ausreisepflichtigen Afghanen per Charterflug nach Kabul abgeschoben zu werden. So geht es nicht, sagt Richter Heinz-Gerd Stratmann, Sprecher des Verwaltungsgerichtes Greifswald:
    "Der Kläger hätte in der konkreten Verfahrenssituation so nicht abgeschoben werden dürfen. Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz gewährt effektiven Rechtsschutz, und den kann das Gericht natürlich nicht gewährleisten, wenn vor Ergehen der gerichtlichen Entscheidung der Kläger in einem Asylverfahren abgeschoben wird."
    Das findet auch Nasibullah S. ´ Anwältin Sonja Steffen. Sie erklärte gegenüber dem NDR:
    "Ansonsten bewegen wir uns in eine Richtung, die Gerichte quasi überflüssig werden lässt. Und das darf nicht der Fall sein."
    Innenministerium spricht von "Verfahrensfehler"
    So die Stralsunderin, die bei der Bundestagswahl 2017 auf Platz 1 der SPD-Landesliste Mecklenburg-Vorpommern angetreten war und nun in Berlin wieder im Rechtsausschuss sitzt. Es seien "Verfahrensfehler beim BAMF zu konstatieren", so die bislang nur schriftliche Reaktion aus dem CDU-geführten Innenministeriums in Schwerin. Das ist in Sachen Abschiebung mit der Fachaufsicht über die vollziehenden Behörden betraut, koordiniert aber zugleich die Auswahl der infrage kommenden Abschiebkandidaten im Land. BAMF und Ausländerbehörde seinen davon ausgegangen, dass die Klage von Nasibullah S. zu spät eingegangen sei und schon deshalb die Ablehnung seines Asylantrages Rechtskraft besitze.
    Doch das VG Greifswald hatte die Klage im August 2017 angenommen. Den Hinweis der Richter an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Klage sei noch anhängig, habe das BAMF der Ausländerbehörde nicht weitergeleitet. Ob man im Innenministerium davon wusste, ist derzeit unklar. Das wurde bislang ebenso wenig beantwortet wie die Frage, ob Nasibullah S. während seines Deutschlandaufenthaltes kriminell auffällig geworden sei. Bei den Sammelabschiebungen handelt es sich nach Angaben aus den Innenministerien von Bund und Ländern stets um Ausreisepflichtige mit kriminellem oder Gefährderhintergrund.
    Echtheit eines Taliban-Briefes muss überprüft werden
    Das VG Greifswald hat jedenfalls für September einen neuen Anhörungstermin angesetzt. Dann will es nicht zuletzt die Echtheit eines Briefes erkunden, der laut Anwältin Sonja Steffen von den Taliban stammen soll und Nasibullah S.' Angst um sein Leben untermauere.
    "Deshalb muss man dafür sorgen, dass er wieder nach Deutschland kommt, damit er sein rechtmäßig, also das Verfahren, auf das er einen Anspruch hat, ordnungsgemäß zu Ende bringen kann."
    Derzeit leben in Mecklenburg-Vorpommern rund 6.200 Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wurde. Etwa die Hälfte von ihnen besitzt eine Duldung, die andere Hälfte muss Deutschland verlassen, hat dies aber noch nicht getan. Im ersten Halbjahr 2018 realisierte Mecklenburg-Vorpommern 237 Rücküberstellungen. 2016 waren es insgesamt 827 Rücküberstellungen, während zugleich 900 Abschiebungen scheiterten. Hauptgründe laut dem Schweriner Innenministerium: Untertauchen, plötzliche Krankschreibungen, renitentes Verhalten. In 20 weiteren Fällen erlangten Ausreisepflichtige ein Kirchenasyl. Ob es zu weiteren fehlerhaften Abschiebungen gekommen ist, konnte das Innenministerium nicht sagen.