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Verfall des Mittelstandes und der Währung

"Der Kaufmann von Berlin" - so heißt das Stück des Autors Walter Mehring, das derzeit unter der Regie von Frank Castorf an der Volksbühne Berlin zu sehen ist. Geschrieben wurde es bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts - doch angestaubt wirkt der Inhalt keinesfalls.

Von Hartmut Krug | 21.11.2010
    Bis in den Bühnenhimmel ragt Bert Neumanns rotweiß gestreiftes Rundzelt, das mit rotierenden Bahnen unterschiedlichste Szenenbilder liefert. Zu Beginn ist in seine Front ein Zugabteil eingefügt, in dem der Ostjude Kaftan mit hundert Dollar Berlin entgegen fährt, um dort sein Geschäftsglück zu machen. Dabei steckt Kaftan nicht wie bei Walter Mehring in einem bunten Menschengemisch, sondern zwischen einer aufgeregt jüdisch diskutierenden schwarzen Schar orthodoxer Juden.

    Während sich Erwin Piscator bei der Uraufführung 1929 mit der Titelfigur des Juden Kaftan, den er als "ein am Kapitalismus zugrunde gehenden Bejaher des Kapitalismus" zeigte, sowohl dem Vorwurf des Antisemitismus wie des Philosemitismus ausgesetzt sah, entwischt Castorf mit dieser souveränen kabarettistischen Szene jedem Vorwurf. Auch, weil Sophie Rois diesen Kaftan als einen naiv-träumerischen, vor allem um seine kranke Tochter besorgten Menschen spielt, der sich bei seinem Aufstieg zum erfolgreichen Bankier nicht entwickelt, sondern nur seine Kleidung ändert: Der pelzbemützte Bartträger im Flatterschwarz assimiliert sich zum bartlosen Buchhaltertyp mit Bubikopf und neutralem Anzug.

    In vielen zwischengeschobenen, poetisch-epischen Texten erzählt Mehring nicht nur die Geschichte der Juden in Berlin, sondern beschreibt auch die Atmosphäre einer Stadt, die sich zur Viermillionenstadt aufbläht und dabei unterschiedlichste Milieus und widerstreitende politische Haltungen auszuhalten hat. Viele dieser Texte werden vom Schauspieler Dieter Mann direkt ins Publikum gesprochen. Mann, Gast an der Volksbühne, spielt den Antisemiten und cleveren Geschäftsmann Dr. Müller mit kühl-energischer Präzision als Spinne in einem Netz, in das antisemitische Putschisten den Juden Kaftan als Finanzier ziehen, bis dieser nach der auf die Inflation folgenden Stabilisierung sein Vermögen und in einem Pogrom seine Tochter Jessi verliert. Bei Castorf überlebt Jessi als Prostituierte, nachdem sie in einem szenischen Zitat vergewaltigt wurde, - so wie Franz Biberkopfs Freundin Mieze vom kriminellen Reinhold in Döblins ebenfalls 1929 entstandenem "Berlin Alexanderplatz."

    Erstaunlich, dass Castorf Mehrings Stück über Inflation und Bankenspekulation nicht als Stück von gestern ins Heute wendet, sondern dass er das politische Erklärstück als historisches Spektakel inszeniert, in dem das Rathenau-Attentat und die Schwarze Reichswehr, Putschisten, Antisemitismus und Feme vorkommen. In schneller Schnitttechnik wechseln mitten im Spiel Zitate, Figuren und Haltungen, - und ironisiert und travestiert wird ohnehin ständig. Wer hier nicht historisch bewandert ist, hat es schwer. Natürlich gibt es etliche Videoszenen, aber auch viel hilfloses Telefoniertheater in einem wie ungeprobt wirkenden vierstündigen theatralen Getobe. Hier ist etwas mächtig schief gegangen: die Schauspieler strampeln sich ab, doch das bald halbtote Publikum ist nur mit eingestreuten grellen Gags aus seiner Apathie zu locken. Selten wurde so deutlich, dass Frank Castorf, verdienter Regisseur der Volksbühne, ästhetisch und inszenatorisch in einer Sackgasse gelandet ist.

    Wenn man die Spielweise der Volksbühnen-Schauspieler in der großen Entwicklungszeit des Hauses als eine Art der abwehrenden Verfremdung gegen ein Theater des einfühlenden Rollenspiels bezeichnen könnte, so hat es sich längst zu einem individuellen Selbstdarstellungsspiel des normalen Volksbühnen-Schauspielers verselbständigt. Hier spielt jeder, wie er will und wie er sich fühlt oder sieht, und immer pflegt er dabei mit expressiver Überdeutlichkeit seinen eigenen, selbstgenügsamen Stil. Man erlebt ein Schreitheater mit oft undeutlicher Artikulation, dem man eine Regiearbeit mit den Schauspielern nicht anmerkt. Mit Rollen oder Figuren hat dies sich auf stets einem einzigen, schmal-monotonen Ausdrucks-Überdrucks-Ton bewegende und sich dabei in heftige Veräußerlichungsgestik entfesselnde Spielweise nichts zu tun. Eher etwas mit individuellem Schauspieler-Typen-Theater: auch wenn hier fast alle mehrere Rollen spielen, bleibt sich jeder immer gleich. So röhrt der überdrehte Mex Schlüpfer ständig mit kalter Kraft, Marc Hosemann verzappelt sich in immer andere und doch gleiche Gliederpuppen, und Margarita Breitkreiz spielt stets mit wie hysterisch wirkendem stimmlich-gestischen Überdruck. Dagegen ist Bärbel Bolle ein anrührendes Monument ihrer selbst, und Volker Spengler spielt einmal mehr den wunderbaren Volker Spengler.

    Zwar bejubelte das Premierenpublikum die Inszenierung nicht, doch beklatschte es sie einverständig. Für mich sind die Fans dieser Art von Theater die wirklich Konservativen: weil sie mit einem Theater zufrieden sind, das sie so und nicht anders seit langem kennen und wollen, - und das angeblich nicht so langweilig ist wie das der Staatstheater-Verwandlungskünstler. Für mich war allerdings der Auftritt von Dieter Mann ein Ereignis: ohne großen Aufwand und jedes Getue gab er ein gesellschaftliches Individuum und war zugleich ein erratischer Kraftblock in einer zerfaserten Inszenierung.