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Verfangen in den Umständen des Lebens

Auch in seinem zweitem Roman hat Patrick Findeis der Provinz die Treue gehalten. Er beschreibt die Unfähigkeit eines Vaters und eines Sohnes, eine Bindung aufzubauen. Durch die Wahl der Figuren und des Milieus entsteht ein leiser Schmerz, der bedrückend und zugleich existenziell erscheint.

Von Wiebke Porombka | 28.11.2012
    Sie klingen beschaulich, benannt nach Zeilen aus dem populären romantischen Volkslied von Anton Wilhelm von Zuccalmaglio. Doch die Romantitel von Patrick Findeis sind trügerisch. Hieß sein Debütroman "Kein schöner Land", dann war das Dorfleben, vom dem Findeis darin erzählte, tatsächlich alles andere als idyllisch. Keine pittoresken Marktplätze und Gehöfte, stattdessen Ausfallstraßen, verödete Bushaltestellen. Und auch die zwischenmenschlichen Beziehungen lagen brach.

    Der neue Roman von Findeis nun heißt "Wo wir uns finden" – "Wo wir uns finden wohl unter Linden zur Abendzeit" heißt die vollständige Liedzeile. Bei Findeis freilich kann man fast sicher sein, dass seine Figuren sich gerade nicht finden werden, sondern sich verlieren, sich verlassen oder voreinander davon laufen. Nicht zuletzt deshalb kann man sich dessen sicher sein, weil auch "Wo wir uns finden" wieder in denselben traurig dumpfen Ortschaften spielt wie der erste Roman von Findeis. Rottensol, Friedberg und Gefrieß heißen diese fiktiven Orte, in denen die Menschen nicht zueinander kommen, auch wenn sie dicht an dicht wohnen.

    Patrick Findeis: "Es ist so eine Heimatlosigkeit und Heimatsuche auf eine Art, was wahrscheinlich das gleiche ist, wie Bindungsversuch und Bindungswunsch und Bindungsunfähigkeit. Die versuchen alle ganz stark, irgendjemanden oder irgendwas zu finden, einfach einen Platz zu finden. Und sie sind eben – Siggi im besonderen – vollkommen unfähig, diesen Platz zu finden auf der Welt."

    Siggi findet nicht nur keinen rechten Platz in der Welt, auch seine Stellung im Erzählgefüge von Findeis' Roman ist durchaus ungewöhnlich. Siggi ist zwar der Erzähler der Geschichte, aber er ist nicht zugegen bei dem Geschehen, von dem er berichtet. Wie sich nach und nach rekonstruieren lässt, ist er seiner Freundin nach Los Angeles gefolgt, nachdem das große Geschäft, das er mit Handyklingeltönen zu machen glaubte, gescheitert ist. Bei seinem Vater Joseph hat er weder hinterlassen, wo er zu finden ist, noch gibt es eine Telefonnummer, unter der er zu erreichen wäre.

    Was Siggi seinem Vater, einem ehemaligen Gießer, aber sehr wohl hinterlassen hat, ist ein Berg von Schulden: Der Vater hat für den Kredit gebürgt, mit dem Siggi sein Klingeltongeschäft anstoßen wollte. Nun treffen wir einen alten Mann, der allein in einem kleinen, einigermaßen heruntergekommenen Häuschen lebt und der sich noch vor Sonnenaufgang aus dem Bett quält, um mit seinem Trolley durch die Nachbarschaft zu ziehen und Zeitungen zu verteilen. Er muss Geld verdienen, um die Schulden des Sohnes zu begleichen, denn gebürgt hat der Vater mit seinem Haus – und dieses Haus ist alles, was von seinen früheren Träumen und Lebensplänen geblieben ist.

    Und wir treffen diesen Vater so, wie Siggi ihn uns schildert. Eine eigentümliche Erzählperspektive ist es, die Findeis über weite Strecken seines Romans gewählt hat. Denn obwohl er so weit weg ist, scheint Siggi den Vater bei allem zu begleiten, was dieser tut.

    "Er weiß das, weil der Vater eigentlich immer ausrechenbare Dinge tut. Warum das jetzt so ist und ob das alles stimmt, das muss natürlich der Leser für sich selbst bestimmen. Realität ist auch immer Interpretationssache. Die Realität des Vaters ist auch die Interpretation des Sohnes."

    Und so weiß Siggi zudem, dass sein Vater neben dem Zeitungsaustragen auch tagsüber ein wenig zusätzliches Geld verdient bei einem gutsituierten Paar, dessen Garten er pflegt. Es hat etwas zutiefst Bemitleidenswertes, wenn der alte Mann seinen Stock zur Seite legt, seinen ohnehin schon krummen Rücken beugt, um Wurzeln auszugraben oder den Zaun zu reparieren.

    Kaum weniger bemitleidenswert ist Theresa, die Auftraggeberin des alten Herrn. Nur äußerlich führt sie ein komfortables Leben. Was hinter der polierten Fassade vor sich geht, kann man nur erahnen. Patrick Findeis spielt hier mit einem bekannten Motiv, wenn er erst nur flüchtig, dann immer deutlicher den Blick in ein Kinderzimmer freigibt. Ein Kind dazu gibt es nicht. Ein Mobile schaukelt in gespenstischer Stille über dem leeren Kinderbett. Neue Spielsachen, die Theresa besorgt und dabei einen vermeintlich unbeschwerten Plausch mit dem Verkäufer führt, werden zu den anderen unberührten Dingen ins Regal gestellt.

    Ob Theresa ein Kind verloren oder nie eines gehabt hat; wie ihr Mann mit ihrem pathologischen Verhalten umgeht – darüber erfährt der Leser nichts. Findeis zeigt Menschen, auf leise, behutsame Weise, kommentieren und urteilen tut er nicht.

    Immer deutlicher kristallisiert sich auf diese Weise eine andere Geschichte heraus, die Lebensgeschichte von Joseph. Anna, seine große Liebe, ist bei der Geburt von Siggi gestorben, im Badezimmer jenes Hauses, in dem Joseph noch immer lebt und das er vor den Schulden des Sohnes zu retten versucht. Wie es zu diesem Unglück kommen konnte, belässt Findeis im Vagen. Für Joseph aber sind Grams und Karl die Schuldigen. Zwei junge Männer, der eine von ihnen ebenfalls in Anna verliebt, die sich in einer unterschwellig brutalen Manier Eintritt in das Leben des jungen Paares verschafft haben, vorgeblich als Freunde, tatsächlich als Belagerer. Joseph ließ sie gewähren.

    "Das ist natürlich auch Josephs Ausrede vor sich selbst, dass er den beiden die Schuld gibt. Seine Schuld ist ja nicht, dass er in dem Moment, wo seine Frau stirbt, nicht da ist. Oder wo sie ihn bräuchte – das ist natürlich eigentlich seine Schuld. Sondern woran er sich die Schuld gibt, ist, dass er diese beiden jungen Männer in sein Haus gelassen hat, in seine kleine, im Entstehen begriffene Familie."

    Und auch wenn Joseph Karl und Grams nach Annas Tod nicht wieder sieht, vertreiben aus seinem Leben kann er sie nicht mehr. Noch jetzt, Jahre später, hört er ihre Stimmen nachts durch sein Wohnzimmer geistern, zum Verstummen gebracht werden sie erst durch das Aufschlagen der Zeitungspakete vor seiner Haustür.

    Der alte Mann hat nicht nur seine Frau verloren, ob nun durch seine Schuld oder durch Fahrlässigkeit. Er hat auch seinen Sohn verloren, der ohne ein Abschiedswort nach Amerika gegangen ist. Und letzten Endes wird Joseph auch noch das letzte verlieren, das ihm geblieben ist. Das Haus. Das aber wird er nicht mehr mit ansehen.

    Als Siggi schließlich doch aus Los Angeles zurückkehrt, hängt im Fenster des leerstehenden Hauses nur noch ein Schild, das dessen Verkauf annonciert. Der Vater ist und bleibt verschwunden. Der Sohn – der Erzähler – hat den Vater aus dem Blick verloren. Er glaube nicht, dass sein Vater tot sei, sagt Siggi, als er einmal mit Theresa telefoniert, wirklich überzeugt klingt es nicht. Das glaube sie schon, antwortet Theresa.

    "Ich glaube, sie machen einfach immer das Falsche. Das ist das Problem. Der Joseph hält den Sohn zu fest. Der Siggi macht was anderes falsch. Und das ist deren Hauptproblem, dass sie aus den richtigen Beweggründen fast ständig die falschen Schlüsse ziehen oder die falschen Taten begehen. Und das steht ihnen immer im Weg, irgendwo hinzukommen oder eine Bindung aufzubauen."

    Das einzige, was Siggi bleibt, ist die Geschichte zu erzählen. Seine Geschichte und die Geschichte seines Vaters, von der wir nicht wissen, ob sie so oder ähnlich stattgefunden hat, ob der Vater wirklich tot ist oder nur die Stadt verlassen hat, ob Siggi sich das Schicksal des Vaters nur erspinnt, während er in der letzten Szene des Buches im dunklen, leeren Schlafzimmer des Vaters steht und auf den vom Licht der Straßenlaternen erhellten Gehweg blickt.

    Patrick Findeis erzählt über Menschen, die wenig eloquent sind und die sich vielleicht deshalb auch leichter verfangen in den Umständen und Aufgaben, die das Leben an sie heranträgt. Menschen sind das, die auf unspektakuläre Weise unfähig sind, sich aus diesen Verstrickungen und kleinen Fußfesseln wieder zu befreien. Die Kraft und zugleich die Melancholie dieses Romans beruht auf einer Sprache, die sich nie über die Figuren erhebt, sie aber auch in keinem Moment denunziert.

    "Ich versuche dann, die Sprache eben als beschreibendes Instrument zu benutzen und jetzt nicht als analysierendes. Sondern die Figuren – wenn sie wenig reden, müssen sie durch ihre Handlungen kommunizieren oder durch Gesten. Das ist aber dann das, was so einen Text dann auch relativ still macht und vielleicht auch, naja, ein bisschen langsam. Das ist eben das Hauptproblem, dass man so eine gewisse sprachliche Beschränkung hat."

    Langsam, still ist der Roman ganz gewiss. Aber die Beschränkung, die sich Patrick Findeis durch die Wahl der Figuren und des Milieus auferlegt, nimmt man nicht als einen Verlust wahr, sondern nur als einen leisen Schmerz. Dieser Schmerz ist so bedrückend und zugleich existenziell, gerade deshalb, weil er nicht ausgesprochen werden kann und weil es keine rechten Erklärungen für ihn gibt.

    Buchinfos:
    Patrick Findeis: "Wo wir uns finden". Roman, Deutsche Verlagsanstalt, München 2012, 208 Seiten, 18,99 Euro.