Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Verfasser der ersten Weltchronik

Salve Regina, Mater misericordia, sei gegrüßt, Königin, Mutter der Barmherzigkeit – wenn dieses Lied erklingt, werden nur wenige wissen, daß der Komponist ein von Geburt an spastisch gelähmter Mann war, geboren am 18. Juli 1013 im schwäbischen Altshausen als Sohn des Grafen Wolfrat von Altshausen und seiner Frau Hiltrud, die für ihren Sohn nur eine Lebenschance sahen: die seelische und intellektuelle Fürsorge der Benediktinermönche im Kloster auf der Insel Reichenau.

Von Christian Linder | 24.09.2004
    Im Alter von sieben Jahren kam Hermann von Altshausen, der später als Hermannus contractus, Hermann »der Lahme« Geistesgeschichte schreiben sollte, ins Kloster und hat es bis zu seinem frühen Tod im Alter von 41 Jahren nicht mehr verlassen. Von allein hätte er es auch nicht gekonnt: Er war darauf angewiesen, daß ihn die Mönche in einem Tragstuhl innerhalb des Klosters von einem Raum in den anderen brachten, und wegen einer schweren Sprachbehinderung hätte er sich Außenstehenden kaum verständlich machen könnten. Nur die Mönche konnten ihn verstehen.

    Wie das so ist: Gerade die Behinderten sind zu Höchstleistungen fähig, und so hat dieser körperlich reduzierte Hermann «der Lahme«, der nur unter Schmerzen die Hand zum Schreiben bewegen konnte, die erste in Deutschland erschienene Weltchronik verfaßt, »Chronicon«, eine von Christi Geburt bis Mitte 1054 reichende Weltgeschichte in Form von Annalen.

    Das Besondere an dieser Chronik war, daß Hermann erst einmal ein mathematisches Gerüst erfand, um die Ereignisse exakt datieren zu können. Hinter diesem körperlich völlig eingeschränkten Leben verbarg sich ein Geist, der die Grenzen der Zeit und des Wissens ständig zu überschreiten versuchte. Ein abenteuerlicher Kopf, der alles mit allem in Verbindung bringen konnte: Geschichtsschreibung mit mathematischen Formeln, auf einer eigener Notentheorie aufgebaute Liedkompositionen mit astronomischen Studien. Die Benediktiner auf der Insel Reichenau werden nicht selten gestaunt haben, was ihr behinderter Mönchbruder alles ausheckte:

    Plötzlich waren die Mönche damit beschäftigt, von Hermann mit einer neuen Mechanik erfundene Uhren, Quadranten und Astrolabien zu bauen, um Sonnen- und Mondfinsternisse zu berechnen; nebenbei entstand auch noch einen Taschensonnenuhr für den Breitengrad, auf dem die Insel Reichenau liegt. Um diese damals fast schon vergessene Technik neu anzuwenden, mußte Hermann aber erst einmal Arabisch lernen, um einige Originalquellen erforschen zu können. »Die Wahrheit der Natur« sei "unüberwindlich", verkündete er, gleichwohl müsse man sie erkennen.

    Gemessen an den Erkenntnismöglichkeiten seiner Zeit hat Hermann von Reichenau, »der Lahme«, abgeschnitten von der Welt auf der Insel Reichenau, doch liebevoll versorgt von seinen Mönchsbrüdern, die wissenschaftliche Erforschung der Welt weit vorangetrieben. In seinem Buch »Computus« finden sich zum Beispiel mathematische Basisdaten für eine exakte Berechnung und Datierung der Zeit, die Hermann für seine Weltchronik benötigte; die "Komputistik" als zyklische Berechnung des Jahreskalenders ist als Ausdruck heute noch im Gebrauch. Wie um sich von diesen naturwissenschaftlichen Forschungen zu erholen, schrieb Hermann Gedichte und komponierte Lieder und unterrichtete selbstverständlich seine Mönchsbrüder im Chorgesang.

    Ein liebenswürdiger Mann, loyal, gläubig-demütig – so haben die Mönchsbrüder Hermann erlebt und ihn auch zum Abt gewähnt. Am 24. September 1054 ist er auf der Insel Reichenau gestorben. Begraben liegt Hermann von Reichenau, Hermannus contractus, Hermann "der Lahme" in seinem Geburtsort Altshausen.