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Verfassungsgerichtspräsident gegen Staatsausgaben auf Pump

Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat sich für die Aufnahme klarer Verschuldungsgrenzen ins Grundgesetz ausgesprochen. Die in den vergangenen Jahrzehnten rasant angestiegene Verschuldung des Staates tangiere dessen Funktions- und Steuerungsfähigkeit. Daher sei es notwendig, die verfassungsrechtlichen Verschuldungsgrenzen justiziabler und eindeutiger zu formulieren.

Moderation: Gudula Geuther | 28.10.2007
    Geuther: Herr Professor Papier, das Thema Terrorismus scheint in diesem Jahr allgegenwärtig. Zum einen - wir hatten in dieser Woche das Gedenken an die Opfer der RAF - 30 Jahr nach dem so genannten "deutschen Herbst", und zum anderen durch ernstzunehmende aktuelle Bedrohungen. Die sind allerdings gleichzeitig in der Bevölkerung wohl sehr viel weniger präsent als die damaligen; und trotzdem ist die gesetzgeberische Aktivität in der inneren Sicherheit beachtlich. Haben Sie dafür Verständnis?

    Papier: Es ist nicht meine Aufgabe, in die politische Diskussion einzugreifen. Die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts kann es nur sein, wenn es angerufen wird, über die Verfassungsmäßigkeit entsprechender Gesetze zu befinden. Ich bitte um Verständnis, wenn ich nicht allgemein über die Zweckmäßigkeit, über die Notwendigkeit gesetzgeberischer Vorhaben oder gar bestimmter gesetzgeberischer Vorhaben Stellung nehme.

    Geuther: Dann nicht zu bestimmten Vorhaben, sondern allgemein, Herr Professor Papier. Anti-Terror-Datei, Ausweitung von Geheimdienstbefugnissen, Vorratsdatenspeicherung, der Ausbau des Bundeskriminalamtes zur selbständigen Vorfeld-Ermittlungsbehörde und vieles mehr. Kritiker, etwa der Bundesdatenschutzbeauftragte, warnen, man dürfe eben nicht nur jede einzelne Maßnahme ansehen, sondern auch die Gesamtheit der Gesetze könne zu einem Übermaß an Überwachung führen. Gibt es da eine Grenze?

    Papier: Das Bundesverfassungsgericht wird die Verfassungsmäßigkeit eines angegriffenen Gesetzes beurteilen müssen. Natürlich wird im Rahmen einer solchen Prüfung das gesamte normative Umfeld mit einfließen, aber ich kann als Verfassungsrechtler eine globale Aussage dergestalt, dass gewissermaßen das Maß insgesamt voll sei oder noch nicht voll sei, so nicht beantworten.

    Geuther: Dann zu einzelnen Vorhaben der Vergangenheit. Sie, das heißt das Verfassungsgericht, zum Teil eben auch Sie als Richter, sind ja in gewisser Weise auch Akteur bei der Gesetzgebung zur inneren Sicherheit - vom Luftsicherheitsgesetz über den europäischen Haftbefehl, zum großen Lauschangriff oder Niedersachsens Gesetz zur vorbeugenden Telefonüberwachung. Die Quote von verfassungswidrigen Gesetzen scheint bei der inneren Sicherheit ungewöhnlich hoch zu sein. Woran liegt das?

    Papier: Sie haben eine ganze Reihe von Vorhaben aufgezählt, die teilweise oder vollständig am Bundesverfassungsgericht gescheitert sind. Ich vermag nicht zu beurteilen, ob das jetzt auf einen Anstieg der Nichtigerklärungen hinweist oder nicht. Es kommt bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung immer darauf an, ob das betreffende auf den Prüfstand gestellte gesetzgeberische Vorhaben insbesondere die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit wahrt, ob also der vorgesehene Eingriff in die Freiheitssphäre der Bürger zum einen überhaupt geeignet ist, die intendierten Zwecke zu erreichen, ob der Eingriff auch in diesem Ausmaß erforderlich ist oder ob es eindeutig mildere Möglichkeiten gibt, das betreffende Sicherheitsziel zu erreichen, und vor allen Dingen, ob die Schwere des Eingriffs in die Freiheitssphäre des Bürgers noch in einem angemessenen Verhältnis zum Nutzen und zum Ertrag für die öffentliche Sicherheit steht.

    Geuther: Kritiker der Gesetzgebung der letzten Jahre in dem Bereich sehen da durchaus eine Tendenz, gerade im Bereich der Verhältnismäßigkeit, und der frühere Innenminister Gerhard Baum hat aus dieser Liste der verfassungsrichterlichen Beanstandungen den Schluss gezogen - und zwar, was das Gericht betrifft, durchaus positiv gemeint: Gesetze zur inneren Sicherheit müssten inzwischen in Karlsruhe geschrieben werden.

    Papier: Das darf und sollte nicht geschehen. Das Bundesverfassungsgericht ist nicht der Gesetzgeber in Deutschland und will es im Übrigen auch nicht sein. Im Gegenteil: Das Bundesverfassungsgericht betont immer, dass der Gesetzgeber gewissermaßen - jetzt in meinen Worten ausgedrückt, das sind nicht die Worte des Bundesverfassungsgerichts - der Erstinterpret der Verfassung ist. Er muss die politische Gestaltung vornehmen, er muss aber auch den Ausgleich zwischen den Anforderungen der inneren Sicherheit und den Grundsätzen des Freiheitsschutzes herstellen. Das Bundesverfassungsgericht nimmt eine ex-post-, also eine nachträgliche, Kontrolle vor, ob dieser Ausgleich in einer verfassungsgerechten, in einer verfassungskonformen Weise gelungen ist.

    Geuther: Und zu dieser Bewertung sehen das ja durchaus nicht alle so positiv wie Herr Baum. Einzelne Unionspolitiker, sehr deutlich auch zum Beispiel der Staatsrechtler Otto Depenheuer, kritisieren, mit solchen Schranken, wie sie das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren aufgestellt hat, sei ein wirksamer Schutz der Bevölkerung nur noch sehr schwer möglich.

    Papier: Auch diese Feststellung, diese Meinungsäußerung ist mir viel zu global. Ich verweise immer wieder auf die Beurteilungsnotwendigkeit in Bezug auf die jeweiligen gesetzgeberischen Vorhaben. Und da kann ich nur sagen: Lasst uns dann über die jeweils konkreten Fälle sprechen.

    Geuther: Dann zu einem solchen konkreten Fall, aber trotzdem noch zur Frage der Gesetzgebung durch das Bundesverfassungsgericht: Bei der heimlichen Online-Durchsuchung hat sich diese Frage konkret gestellt. Da liegt beim Gericht ein Gesetz, das die Kompetenz für einen Landesverfassungsschutz regelt, und der Bund hat dann eine ganze Weile gestritten, ob für eine Regelung für das Bundeskriminalamt das Urteil des Verfassungsgerichts abzuwarten ist. Ist es hier nicht doch so, dass der Gesetzgeber wartet, dass ihm das Bundesverfassungsgericht Gesetze entwirft?

    Papier: Wir werden keine Gesetze entwerfen, übrigens auch in diesem Verfahren nicht. Aber richtig ist, dass in Bezug auf dieses konkrete Verfahren, das Sie angesprochen haben, bei dem es also um die Verfassungsmäßigkeit eines Landesgesetzes geht, notwendigerweise gewisse Grundaussagen zum Schutz der Vertraulichkeit und der Integrität eigener informationstechnischer Systeme gemacht werden müssen vom zuständigen Senat des Bundesverfassungsgerichts. Und dass diese Grundaussagen, die einfach in Bezug auf das anhängige Verfahren notwendig sein werden, natürlich auch für weitere gesetzgeberische Vorhaben auf der Ebene des Bundes oder anderer Länder Bedeutung haben werden, das wird man wohl sagen dürfen.

    Geuther: Das war ja auch deutlich zu sehen in der Anlage der mündlichen Verhandlung. Es ging, wie gesagt, um das Landesgesetz. Befragt wurden sehr ausführlich der Präsident des Bundeskriminalamts, der Präsident des Bundesverfassungsschutzes, das heißt, der Präsident einer Behörde, für die das Gesetz noch nicht konkret auf dem Tisch liegt, der Präsident einer Behörde, für die es noch nicht einmal angedacht ist. Sind wir jetzt dabei, dass das Gericht wieder Gutachten schreibt?

    Papier: Das Gericht wird keine Gutachten schreiben, es ist dafür nicht zuständig. Es hat zu Beginn der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts solche Möglichkeiten einmal gegeben, dass das Bundesverfassungsgericht angerufen wird zur Vorlage eines Rechtsgutachtens. Dies ist aber schon in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wieder abgeschafft worden, und wir haben nicht die Absicht, eigenmächtig und eigenständig dieses alte Institut wieder aufleben zu lassen. Auf der anderen Seite ist hier zweifelsohne eine Konstellation gegeben, in der anhand eines konkreten Verfahrens Grundentscheidungen, Grundaussagen dieses Hauses erfolgen werden zum Schutz der Vertraulichkeit und der Integrität informationstechnischer Systeme und vor allen Dingen auch zu den Schranken und zu den Einschränkbarkeiten dieses grundrechtlichen Schutzes. Und dass das eben für gerade anstehende künftige Gesetzesvorhaben eine Rolle spielen wird, das lässt sich auch nicht leugnen.

    Geuther:In dem konkreten Fall, bei der Online-Durchsuchung, hatte man ja im Vorfeld schon gesagt: Wir betreten hier rechtliches Neuland. Es hatte zum Beispiel in einer Landtagsanhörung auch geheißen, das muss eine Geschichte von Treffer und Fehler - von trial and error - sein. Ist in solchen Fällen, die ja wahrscheinlich sich in nächster Zeit immer wieder zeigen werden angesichts des technischen Fortschritts, ist es denn tatsächlich eine Überlegung, auch den Gesetzgeber nicht allein zu lassen, sondern das Gutachten wieder einzuführen?

    Papier: Also ich bin, offen gestanden, kein Befürworter eines neuerlichen Auflebens des Gutachtenverfahrens, ganz abgesehen davon, dass wir das aus Kapazitätsgründen gar nicht leisten könnten. Wir haben über 6000 Verfahren pro Jahr anhängig, und wir sind gar nicht in der Lage, jetzt auch noch präventiv Rechtsgutachten zu fertigen. Das schließt natürlich nicht aus, dass es mal Konstellationen geben wird, in denen Grundentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts quasi wie ein Gutachten auch für parallele oder künftige Gesetzgebungsvorhaben Auswirkungen haben.

    Geuther: Was man an diesem konkreten Fall der Online-Durchsuchung auch schön sehen konnte in der Verhandlung, das war, dass man in kürzester Zeit eine inhaltliche Tiefe erreicht hatte, die zumindest die öffentliche Diskussion in Monate in Berlin nicht erreicht hatte - was ja auch immer wieder vorkommt bei anderen Verfahren. Was passiert da? Ist das Gericht da Katalysator für die politische Willensbildung?

    Papier: Wir haben vor allen Dingen in diesem Verfahren im Rahmen der mündlichen Verhandlung, die ja erst vor einigen Wochen stattgefunden hat, Wert darauf gelegt, die technisch-fachlichen Möglichkeiten zu erkunden, denn wir sind ja alle hier auf diesem Gebiet keine Fachleute. Und der Sinn der mündlichen Verhandlung lag vor allen Dingen darin, die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen in technologischer, praktischer Hinsicht ausfindig zu machen. Und insofern fand ich die mündliche Verhandlung auch für uns - für die Richterbank - sehr lehrreich und sehr eindrucksvoll.

    Geuther: Ein anderer Punkt im Verhältnis von Gericht und Politik: Die Diskussion, ob ein neuer Antrag zum Verbot der NPD gestellt werden soll - der flammt immer wieder auf, gerade auch jetzt auf dem SPD-Parteitag, und immer wieder war in der Vergangenheit in dem Zusammenhang der Vorwurf an das Gericht zu hören, die Hürden für ein Verbotsverfahren seien unüberwindbar hoch.

    Papier: Sie dürfen mich nicht fragen, ob ein solches Verfahren eingeleitet werden soll. Das haben andere zu entscheiden. Ich darf nur darauf hinweisen, dass nach unserer Verfassung eine politische Partei nur durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt werden kann, oder - etwas vereinfacht ausgedrückt - verboten werden kann. Aber das Bundesverfassungsgericht wird nicht von Amts wegen tätig, sondern nur auf Antrag. Und zur Antragstellung berechtigt sind die Verfassungsorgane Bundesregierung oder Bundestag oder Bundesrat. Ich gebe diesen Verfassungsorganen keine Ratschläge. Das müssen sie entscheiden, ob sie einen entsprechenden Antrag beim Bundesverfassungsgericht stellen wollen. Mehr möchte ich zu diesem Fragenkomplex nicht sagen.

    Geuther: Dann zu einem anderen Bereich der Verantwortung der Politik, Herr Professor Papier, zu den Staatsfinanzen. Seit dem Frühjahr arbeitet die Föderalismuskommission II. Bisher scheint man über die Frage der Verschuldensregeln nicht hinausgekommen zu sein, das heißt, beim eigentlichen Punkt - bei einer klareren Verteilung der Steuern zwischen Bund, Ländern und Kommunen - ist man noch nicht mal recht angekommen. Scheitert die Reformfähigkeit im Bundesstaat, sobald es ums Geld geht?

    Papier: Das will ich nicht hoffen, kann ich aber auch nicht beurteilen. Ich begrüße allerdings, dass die politischen Kräfte in diesem Land immer wieder bereit sind, auch über die vorhandenen Strukturen der bundesstaatlichen Ordnung nachzudenken. Die Verfassung ist ja kein Block von Normen, der gewissermaßen auf alle Zeit unveränderlich sein muss. Im Gegenteil, die Bundesstaatlichkeit hat sich in den letzten Jahrzehnten in der Bundesrepublik immer wieder fortentwickelt, und das Verfassungsrecht muss immer wieder in Nuancen diesen Entwicklungen angepasst werden. Und so ist, glaube ich, allgemein anerkannt, dass gerade auch in finanzpolitischer, in finanzverfassungsrechtlicher Hinsicht unsere bundesstaatliche Ordnung einer gewissen Modernisierung bedarf. Und deshalb begrüße ich die Bestrebungen auch in der Föderalismusreform Stufe II, hier gewisse Veränderungen vorzunehmen, um eben die allgemeine politische Absicht, den Föderalismus etwas von der Tendenz zu befreien, zu einem Art Verbundföderalismus zu werden, indem sich alle Ebenen vermischen und die Verantwortungsspähren nicht mehr klar erkennbar sind - auch in Bezug auf das finanzverfassungsrechtliche Geflecht - zu verfolgen.

    Geuther: Noch mal zu den Staatsfinanzen und zur Rolle des Gerichts in dem Zusammenhang. Bei der Entscheidung über den Bundeshaushalt 2004 hat das Gericht, der Zweite, also nicht Ihr Senat, den Gesetzgeber scharf für seine Verschuldenspolitik gerügt, und das in einer sehr ungewöhnlichen Form für das Verfassungsgericht. Vereinfacht gesagt hat er entschieden, nach dem Buchstaben der Verfassung gibt es nicht auszusetzen, aber eben dieser Buchstabe der Verfassung sollte geändert werden. So kann man auf Dauer mit den Staatsfinanzen nicht umgehen. Das klingt ein bisschen nach der Hilflosigkeit vor einem drängenden Problem.

    Papier: Es handelt sich in der Tat um ein drängendes Problem. Es geht also nicht nur um die Frage, ob die bestehende Verschuldensregelung des Artikel 115 des Grundgesetzes modifiziert werden sollte oder in welcher Art und Weise, sondern die in den letzten Jahrzehnten rasant angestiegene Verschuldung des Staates tangiert ja die Funktions- und die Steuerungsfähigkeit des demokratischen Rechts- und Sozialstaats insgesamt. Die Gestaltungsmöglichkeiten des Staates werden ja immer enger, je stärker und je höher die Schuldenlast wird, ganz abgesehen davon, dass das ja auch eine Politik zu Lasten künftiger Generationen ist. Also, es stellt sich hier ein wirklich zentrales, elementares Problem der Sozialstaatlichkeit, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie. Und deshalb sollte man die Aussagen in der Entscheidung des zweiten Senates wirklich nicht auf die leichte Schulter nehmen, sondern man wird auch aus meiner persönlichen Sicht nicht umhin können, die verfassungsrechtlichen Verschuldensgrenzen strikter und justiziabler und eindeutiger zu formulieren. Das gegenwärtige Verfassungsrecht, das ja nur eine Art relative Verschuldensgrenze kennt, muss auch aus meiner persönlichen Sicht dringend reformiert werden.

    Geuther: Wenn Sie sagen Rechtsstaat, Sozialstaat, Demokratie, die Handlungsfähigkeit steht in Frage, dann klingt das so, als könnte irgendwann eine Verschuldenspolitik, auch ohne Grundgesetzänderung, möglicherweise eine verfassungsrechtliche Komponente bekommen.

    Papier: Ich möchte jetzt zu solchen Fragen, die sich vielleicht einmal künftig hier in diesem Hause stellen könnten und vor allen Dingen zu entscheiden wären, ich bitte da um Verständnis, mich nicht äußern. Aber die grundlegende Ausrichtung dieses Problems dürfte, glaube ich, sowohl in der Entscheidung des zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts als auch in meinen eben getätigten Aussagen klar geworden sein.

    Geuther: Wir haben das Phänomen ja hin und wieder auch bei Landesverfassungsgerichten. Es wird festgestellt, ein Haushalt war verfassungswidrig. Und dann?

    Papier: Das kommt noch hinzu; dass die verfassungsprozessualen Möglichkeiten sich hier in Grenzen halten. Aber ich meine schon, wenn das materielle Verfassungsrecht strikter formuliert wird, wenn im Grunde fast oder nahezu ein absolutes Verbot verfassungsrechtlicher Art eingeführt würde, Staatsausgaben über Kreditaufnahmen zu finanzieren, dann hätte das auch in Bezug auf die reale Umsetzung der Verschuldensgrenzen durchaus Auswirkungen. Der Mangel des jetzigen Rechts besteht wohl darin, dass wir im Grunde nur ein relatives Verschuldensverbot haben, das relativiert wird durch die Anforderungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes und dass natürlich die Beurteilung einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes und der Notwendigkeit, mit bestimmten Maßnahmen dieser Störung entgegen zu steuern, dass das in erster Linie politische Entscheidungen sind und das Verfassungsgericht diese mehr ökonomischen Überlegungen nicht selbst vornehmen kann, sondern hier eben wiederum dem Gesetzgeber, auch dem Haushaltsgesetzgeber, Spielräume eingeräumt hat, mit der Folge, dass eben - das muss ich sagen - das geltende Verfassungsrecht wirklich ungeeignet war, diesem rasanten Anstieg der Staatsverschuldung wirklich substanzielle Grenzen zu setzen.

    Geuther: Dann zurück zur Föderalismusreform. Sie hatten einmal vor dem Großprojekt Föderalismusreform gesagt, ein großer Wurf könne gar nicht gelingen ohne eine Neugliederung der Länder. Bleiben Sie bei dieser Skepsis?

    Papier: Die Neugliederung der Länder ist ein Thema, das so, wie ich das im Augenblick beurteile, letztlich nicht zur Diskussion steht. Deshalb will ich da auch nicht rekurrieren. Wichtig ist, dass man den Versuch unternimmt, wenn man einen vitalen Bundesstaat will, die Kompetenzen der Länder wieder etwas stärkt. Und dazu gehört auch eine gewisse Stärkung der Finanzautonomie der Bundesländer.

    Geuther: Wozu es ja gewisse Erfahrungen schon gibt, das ist der andere Bereich, die Föderalismusreform I. Da hat in dieser Woche Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble Bilanz gezogen - die Reform, die vor allem die Zuständigkeiten für die Gesetzgebung von Bund und Ländern entflechten sollte. Sein Ergebnis ist positiv. Vor allem die immer wieder beklagte Gefahr, dass sich Bundestag und Bundesrat gegenseitig blockieren, sei gesunken, heißt es da. Vor allem politisch umstrittenen Gesetzen musste demnach im vergangenen Jahr der Bundesrat deutlich seltener zustimmen. Versöhnt Sie das mit der Reform?

    Papier: Das Bestreben, diese Entflechtung etwas zu befördern, ist ja auch durchaus positiv zu bewerten. Ich habe gewisse Bedenken in Bezug auf die Abweichungsgesetzgebung der Länder. Diese Möglichkeit ist ja noch nicht real geworden, die Länder haben davon noch keinen Gebrauch gemacht. Wenn sie allerdings von dieser Möglichkeit, von einem Bundesgesetz abzuweichen, in nennenswertem Umfang Gebrauch machen sollten, dann fürchte ich ein gewisses Normenwirrwarr in Deutschland. Also in Bezug auf dieses Institut möchte ich eine gewisse Vorsicht äußern. Aber im Übrigen ist die Föderalismusreform, vor allem in der Stufe I, im Prinzip zu begrüßen.

    Geuther: Von einem möglichen Kompetenzgerangel zum nächsten, nämlich Europa. Seit dem vergangenen Wochenende ist mit dem Vertrag von Lissabon die Grundrechtecharta verbindlich. Was heißt das für die Kompetenzverteilung zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof und Menschenrechtsgerichtshof?

    Papier: An sich werden ja nur durch das europäische Gemeinschaftsrecht die Kompetenzen zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg berührt. Das Bundesverfassungsgericht prüft nationale Hoheitsakte am Maßstab des deutschen Verfassungsrechts, und der Europäische Gerichtshof überprüft die Auslegung und Einhaltung des Gemeinschaftsrechts. Also, im Ansatz gibt es klar abgegrenzte Zuständigkeiten beider Gerichte. Ich will nicht leugnen, dass es im einen oder anderen Fall zu parallelen Problembereichen unterschiedliche Aussagen geben kann, aber im Großen und Ganzen erwarte ich keine nennenswerten Überschneidungen oder Verschiebungen oder Spannungen zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof der Gemeinschaften aufgrund insbesondere dieses neuen Änderungsvertrages.

    Geuther: Es gibt ja derzeit einen konkreten Testfall noch für das Funktionieren von Grundrechtsschutz in Deutschland und Europa gleichermaßen, die Vorratsdatenspeicherung, die voraussichtlich hierzulande bald Gesetz wird, und sie beruht auf einer europäischen Richtlinie. Und hier beim Bundesverfassungsgericht sind massenweise Verfassungsbeschwerden dagegen angekündigt. Datenschützer fürchten aber, egal wie grundgesetzwidrig das möglicherweise ist, da wird Karlsruhe nicht viel machen können, das wurde nun mal in Europa so beschlossen.

    Papier: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes wird der nationale Grundrechtsschutz derzeit jedenfalls zurücktreten, so lange und so weit auf Gemeinschaftsrechtsebene ein im Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz gewährt wird. Dies war bisher der Fall, und zwar aufgrund einer vom Europäischen Gerichtshof der Gemeinschaften entwickelten Grundrechtsdogmatik. Aber dies wird ja dann eher noch verstärkt, wenn es aufgrund der neuen Vertragswerke der Gemeinschaft sogar einen geschriebenen Grundrechtekatalog auf Gemeinschaftsebene geben wird. Wenn nationale Rechtsakte sich darin erschöpfen, zwingendes Gemeinschaftsrecht umzusetzen, dann wird der Grundrechtsschutz in erster Linie, sage ich mal, auf der Gemeinschaftsebene zu leisten sein. Und dann werden die nationalen Gerichte und gegebenenfalls und schlussendlich der Europäische Gerichtshof der Gemeinschaften darüber zu wachen haben, dass die gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakte, die gewissermaßen die nationale Gesetzgebung prägen, an diesen Grundrechten des Gemeinschaftsrechts zu messen sein werden. Also der Grundrechtsschutz wird sich dann partiell insoweit verlagern auf die Gemeinschaftsrechtsebene.

    Geuther: Herr Professor Papier, in diesem Verfahren Vorratsdatenspeicherung - oder noch nicht Verfahren - haben im Internet um die 20.000 Bürger angekündigt, Verfassungsbeschwerde zu erheben. Was heißt das eigentlich für das Gericht? Kann man das bewältigen?

    Papier: Wir müssen es bewältigen. Wir können ja einzelne Verfahren herausgreifen und gewissermaßen Musterentscheidungen treffen. Und in der Folge werden sich dann die anderen Verfahren auf diese Weise eher erledigen lassen. Also ich bin da nicht pessimistisch dergestalt, dass wir auf diese Weise etwa lahmgelegt werden könnten. Wir werden, so meine ich jedenfalls, auch mit solchen Konstellationen fertig werden.

    Geuther: Wie bewerten Sie denn so einen Massenprotest? Ist das ein Zeichen für besonders funktionierende Kritikfähigkeit im Rechtsstaat, oder ist das Klamauk, ist das etwas, was der Ernsthaftigkeit solcher Verfahren nicht gerecht wird?

    Papier: Ich kann das jetzt noch nicht beurteilen, ob das mehr oder weniger nur eine politische Show sein soll oder wirklich auf ernsthaften problemorientierten Beurteilungen eines Großteils der Bevölkerung beruht. Also, das sind ja erst künftige Geschehen, die so noch gar nicht vorliegen.

    Geuther: Es führt uns trotzdem zu meiner letzten Frage, wie das Gericht da steht in der öffentlichen Wahrnehmung. Das ist ein Dauerbrenner, aber die Antwort hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder verschoben. Was ist Ihr momentaner Eindruck, welche Funktion hat das Bundesverfassungsgericht im Staat aus Sicht der Bürger?

    Papier: Wenn ich es richtig beurteile, eine sehr wichtige und eine sehr hoch eingeschätzte Funktion. Da bin ich eigentlich ganz glücklich darüber, dass das Bundesverfassungsgericht in den Augen der Öffentlichkeit eine so hohe Reputation besitzt als Hüter der Verfassung und insbesondere auch als Hüter der Grund- und Menschenrechte in Deutschland. Also, da will ich mich nun wirklich nicht beklagen.

    Geuther: Herr Professor Papier, ich danke Ihnen für das Gespräch.