Freitag, 29. März 2024

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Vergangenes und Gegenwärtiges. Erinnerungen

Schreibend brach er zusammen. Ein kleiner Stern im 1878 erschienenen vierten Band des "Grimmschen Wörterbuchs" verweist auf eine Fußnote, die einzige auf rund 35.000 Seiten: "Mit diesem Worte" - gemeint ist die Vokabel "Frucht" - "sollte Jacob Grimm seine Feder von dem Werke leider für immer niederlegen." Ein Denkmal aus Buchstaben, einzigartig in der deutschen Literatur, das die Polarität von sterblichem Geist und unsterblichem Geistesprodukt auf anrührende Weise zu Herzen gehen läßt. Unmittelbar in den zeitlichen Ablauf einfügt, ist es, als stürbe Jacob Grimm bei jedem Lesevorgang erneut. Bei Monika Mann markiert ein kleines Grabkreuz auf Seite 81 den Tod des Vaters. Wie selten in der Literatur läßt sich damit sagen, an welchem Tag die Autorin diese Seite schrieb: Es muß der 12. August 1955 gewesen sein. Danach wurde alles anders. Die ohnehin eher wie ein Wildbach quirlende als majestätisch dahinfließende Autobiographie der nach Erika Mann zweitältesten Tochter des lübischen Dichterfürsten hält kurz inne - um sich dann erkennbar dem wahren Gegenstand des Buches zuzuwenden: dem fernen, nun gänzlich abhanden gekommenen Vater.

Florian Felix Weyh | 29.01.2002
    Schon zuvor eine Autobiographie unter dem Vorbehalt der Selbstzurücknahme, denn wer interessierte sich fürs Leben einer pianistisch und journalistisch begabten Frau mittleren Alters, hieße sie nicht Mann? "Ich" sagen fällt schwer in einer solchen Konstellation, auch wenn man einiges erlebte, das in seiner Schicksalhaftigkeit durchaus Exklusivität beanspruchen könnte. Ein überlebter Schiffbruch im Atlantik etwa, verursacht von deutschen Torpedos und verbunden mit dem Verlust des geliebten Gatten. Als schriftstellerisches Mauerblümchen - so betrachtete es die Restfamilie, und Mutter Katja giftete in einem Brief von "halb begabten, geschmacksunsicheren, danebengehenden Produkten" - verbot sich die Auswertung des biographischen Materials eigentlich, und daß Monika Mann es dennoch tat, mußte sie mit Zweifeln, Zaghaftigkeit und immer wieder durchscheinender Unsouveränität bezahlen: Souverän ist, wer keinen Vater über sich hat, doch hier ist er stets präsent: "Das inständig ichwärts gekehrte väterliche Wesen wirkte einschüchternd". Oder: "Unser Vater dominierte auf passive Weise - weniger sein Tun als sein Sein bestimmte uns."

    Dass der Tod dieses sanften Tyrannen unmittelbar und jäh in den Text einbrechen mußte wie weiland bei Jacob Grimm, liegt auf der Hand, denn er stellt - bei aller Trauer - auch eine Befreiung dar. Wenige Tage später findet sich die erste Charakterisierung von treffender Ironie, in der Thomas Mann als "Inbegriff des im Regen spazierenden Herrn" beschrieben wird: kein Alltagsvorgang, sondern ein Auftritt von gesuchter Akkuratesse. Wie ungerecht die eilfertig der Familie beipflichtende Literaturkritik der fünfziger Jahre mit dieser Schriftstellerin umgegangen ist, zeigt sich spätestens an diesem Abschnitt: Monika Mann könne nicht erzählen, hieß es, aber vielleicht wollte sie nicht einfach zum Epigonen des Vaters, Onkels, Bruders werden, denn sie erzählt bewußt nicht im Stile des 19. Jahrhunderts. Ihre Beschreibungen sind impressionistischer Natur, von essayistischen Gedankenblitzen erhellt und mit unglaublich präzisen und entlarvenden Beobachtungen durchwoben. Die auf wenige Sätze verdichtete Schilderung ihres Schiffsunglücks gehört zum Eindrucksvollsten, was man je von Überlebenden über solche Katastrophen las, und der zeitgenössische Vorwurf des "manieristischen Stils" geht völlig in die Irre - oder zeigt nur, wie sehr sich die Stilwahrnehmung ändert. Aus heutiger Sicht ist Thomas Mann der große Manierierte des 20. Jahrhunderts, während seine zweitälteste - jene als unbegabt gescholtene - Tochter eine dezidiert weibliche, bildhaft-poetische, aber niemals in den Kitsch abgleitende Sprache verwendet, die trotz mancher Patina - wie der Verwendung des Wortes "Neger" - strukturell höchst modern anmutet. Man kann dem Rowohlt Verlag nur danken, daß er diese kluge und den Leser bereichernde Autorin wieder aufgelegt hat, während man im Hintergrund Karl Kraus seufzen hört: "Das Wort Familienbande hat einen Beigeschmack von Wahrheit."