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Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute

Vergangenheitsbewältigung in Deutschland - das ist hierzulande nach wie vor ein heikles Thema. Erinnert sei nur an das unwürdige Gefeilsche um die Entschädigung der Zwangsarbeiter, an die Diskussionen um das Holocaust-Denkmal in Berlin oder an den politischen Skandal, dass homosexuelle KZ-Häftlinge immer noch nicht rehabilitiert sind. Der Hamburger Politologie-Professor Peter Reichel hat sich mit seinen Büchern "Der schöne Schein des Dritten Reiches" und "Politik mit der Erinnerung" einen Namen gemacht als Kenner der Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Folgen. Jetzt ist sein jüngstes Buch erschienen: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland.

Peter Reichel | 20.08.2001
    Vergangenheitsbewältigung in Deutschland - das ist hierzulande nach wie vor ein heikles Thema. Erinnert sei nur an das unwürdige Gefeilsche um die Entschädigung der Zwangsarbeiter, an die Diskussionen um das Holocaust-Denkmal in Berlin oder an den politischen Skandal, dass homosexuelle KZ-Häftlinge immer noch nicht rehabilitiert sind. Der Hamburger Politologie-Professor Peter Reichel hat sich mit seinen Büchern "Der schöne Schein des Dritten Reiches" und "Politik mit der Erinnerung" einen Namen gemacht als Kenner der Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Folgen. Jetzt ist sein jüngstes Buch erschienen: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland.

    Der Titel stimmt nicht, denn er weckt Erwartungen, die durch das Buch nicht erfüllt werden. "Vergangenheitsbewältigung in Deutschland - Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute", an diesem von ihm selbst formulierten Anspruch muss der Hamburger Professor für Politikwissenschaften, Peter Reichel, sich messen lassen, und da hat er sein Thema ein Stück weit verfehlt. Denn Reichel beschäftigt sich überwiegend mit den fünfziger und sechziger Jahren und in dieser Zeit wiederum vor allem mit der juristischen Aufarbeitung, teilweise auch mit der politischen, aber alles bleibt Stückwerk, eine durchgehende Linie ist nicht erkennbar. Bleiben wir bei dem, was fehlt oder viel zu kurz kommt: Das ist die komplizierte und trotz immenser Zahlungen bedrückende Geschichte der Entschädigungsgesetze und ihrer Handhabung in der Praxis. Das ist die deprimierende Geschichte der auch in den achtziger und neunziger Jahren noch vor Gerichten verhandelten NS-Verbrechen. Das ist der Historiker-Streit. Das ist eine Einordnung des nach der Wiedervereinigung wieder aufgeflammten Antisemitismus. Das sind die rechtsextremistischen Parteien von heute, das ist eine Jugendsubkultur, die sich auf den Nationalsozialismus beruft und die Hilflosigkeit der Gesellschaft diesen Neonazis gegenüber. Das ist der Walser-Bubis-Streit. Und das ist der krämerseelenhafte Umgang mit dem Zwangsarbeiter-Fonds. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.

    Nun wird Peter Reichel verweisen auf seine "Politik mit der Erinnerung" von 1999, ein hervorragendes Buch übrigens, aber ich fühle mich als Leserin verärgert, wenn die durch den Klappentext geweckte Neugier nicht befriedigt wird. Denn da wird eine Beschreibung bis zur aktuellen Kontroverse um das Holocaust-Mahnmal und die Entschädigung der Zwangsarbeiter versprochen und eine Würdigung des politischen, juristischen und moralischen Umgangs mit der NS-Vergangenheit angekündigt. Sicherlich ein zu hoch gestecktes Ziel, das die Möglichkeiten eines Taschenbuches sprengen würde. So finden sich viele gute und genau beschriebene Einzelbeispiele, aber der rote Faden fehlt. Die Geschichte der "Vergangenheitsbewältigung" bleibt ungeschrieben.

    Und doch lohnt es sich durchaus, dieses Buch zu lesen. Wer sich intensiv informieren möchte über die Entnazifizierung, die Nürnberger Prozesse, die sich daran anschließende juristische Aufarbeitung der NS-Zeit unter deutscher Regie, über die politischen Diskussionen - am Beispiel der vier Verjährungsdebatten im Bundestag - und das öffentliche Umfeld, in dem all das stattfand, kann dazulernen. Reichel gelingt es, neue Blickwinkel zu finden, Zweifel zu wecken an festgefügten Bildern. Die Adenauer-Ära gilt heute als langweilige, spießbürgerliche Zeit, in der alles dem Willen zu Wiederaufbau und Wirtschaftswunder unterworfen war. Dabei gab es Jahr für Jahr erbitterte Auseinandersetzungen, etwa um die Freisprüche Veit Harlans, des Regisseurs von "Jud Süß", um zahlreiche skandalöse Urteile belasteter Richter. Hetzreden unbelehrbarer Politiker beschäftigten Öffentlichkeit und Bundestag. Das ging bis hin zu einer Prügelei zwischen Herbert Wehner und einem rechtsextremistischen Parlamentskollegen Anfang der fünfziger Jahre. Ein Thema, das Thema, blieb allerdings weitgehend ausgeklammert: Erst als 1959 die Zeitungen ständig über antisemitische Vorfälle berichten mussten, gab es eine breitere Diskussion über den Völkermord an den Juden, ein nach den Nürnberger Prozessen weitgehend verdrängtes Thema. Reichel schreibt:

    "Unversehens war die vermeintlich weit zurückliegende Geschichte gegenwärtig, wurde offenbar, dass sie Teil der eigenen Geschichte ist, dass die Nazis Deutsche und dass sehr viele Deutsche Nazis gewesen waren."

    Der Politikwissenschaftler belegt auch, dass das Ausmaß der Verbrechen erst mit Beginn der Auschwitzprozesse im Dezember 1963 von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Und erst von diesem Zeitpunkt an, so vermutet Reichel schlüssig, beschäftigten sich die Deutschen mit der Frage

    "...wieso zumeist unbescholtene Bürger - Akademiker, Beamte, Kaufleute, Handwerker - plötzlich zu unvorstellbaren Greueltaten fähig waren und nach Kriegsende wieder zu harmlosen Bürgern wurden."

    So die vom Autor zitierte "Frankfurter Allgemeine Zeitung." Beim Lesen wird klar, dass die Vorbereitungen des Auschwitzprozesses das Signal waren, ernsthaft nach den teilweise ganz offen unter ihrem richtigen Namen in Deutschland lebenden Tätern zu fahnden. Das war mehr als zwanzig Jahre nach Kriegsende! Kostbare Zeit war vertan. Zwar gab es auch zuvor schon Ausnahmen wie den unermüdlichen Ankläger General Staatsanwalt Fritz Bauer, doch insgesamt waren Staatsanwaltschaften und Gerichte eher lustlos, da sie wegen ihrer Vergangenheit häufig selbst angreifbar waren.

    Ende der fünfziger Jahre war die Zentrale Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg eingerichtet worden . Die Ermittler leisteten - immer im Wettlauf gegen die Zeit - Bewundernswertes. Viermal musste der Bundestag die Verjährungs-Gesetze ändern, weil die Gefahr drohte, dass auch schwerste Verbrechen sonst ungesühnt blieben. Reichels Zusammenfassung dieser Debatten ist ein faszinierendes politisches Lehrstück. Etwa die leidenschaftliche Mahnung des Strafrechtsprofessors Werner Maihofer, FDP-Bundestagsabgeordneter:

    "Über Mord wächst irgendwann einmal Gras, und zwar im Regelfall schon nach einer Generation. Über Auschwitz aber wächst kein Gras, noch nicht einmal in hundert Generationen."

    Reichels Schlusssätze im Buch sind gleichzeitig richtig und falsch:

    "Damit aber über Auschwitz auch in noch so ferner Zukunft kein Gras wächst, werden sich die kommenden Generationen vor allem mit der Entstehungsgeschichte des Nationalsozialismus auseinandersetzen und immer wieder die eine beunruhigende Doppelfrage stellen müssen: warum Hitler nicht verhindert werden konnte, und warum die Gewaltverbrechen gerade in Deutschland geschehen sind."

    Richtig daran ist, dass trotz der Fülle von wissenschaftlichen Arbeiten, persönlichen Erinnerungen und glänzenden historischen Büchern zu Kaiserreich und Weimarer Republik die Erklärungen nicht wirklich befriedigen können. Falsch aber ist, die Hoffnung auf künftige Generationen zu verlagern.

    Renate Faerber-Husemann über das Buch von Peter Reichel: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute. Verlag C.H.Beck. München 2001. 253 Seiten. 26 Mark 90.