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Vergebung kann Jahrzehnte dauern

Was passiert, wenn Menschen einander vergeben, warum es dem einen leichter und dem anderen schwerer fällt, haben Psychologen und Soziologen der FU Berlin im Exzellenzcluster "Languages of Emotion" untersucht. Ein Ergebnis: Männer verzeihen Fehlverhalten eher als Frauen.

Von Isabel Fannrich | 20.09.2012
    Judy Winter: "Mutter, denkst du noch daran. Mutter, hast du mir vergeben, was ich dir angetan."

    Jan: "Vergebung ist Nachsichtigkeit üben. (…) Ja, wenn man zu spät ist, kann man sich dafür schon entschuldigen. Also es sind Dinge einfach verzeihbar. Aber Nachsicht üben ist glaube ich ein bisschen tiefgründiger."

    Andrea: "Bin Katholikin, keine praktizierende, keine besonders gläubige. Aber für mich ist es unmittelbar mit Christentum einfach verknüpft, mit abendländischem Denken einfach. Und ich muss da natürlich auch an das Vater Unser denken. Wie heißt es da? (…) 'Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.' Und ich glaube, dass man ein Stück auch damit aufwächst."

    Vergebung zu erklären, fällt weder den Befragten noch den Wissenschaftlern der Freien Universität Berlin leicht. Letztere untersuchen für das Exzellenzcluster "Languages of Emotion", was Menschen heute darüber denken. Christian von Scheve, Projektleiter und Juniorprofessor für Soziologie:

    ""Meinen wir mit Vergebung alle das gleiche? Für viele Menschen scheint es ein politisches Konstrukt zu sein, was sich aus den Sphären des politischen Handelns speist. Für andere ist es etwas, was sich in allererster Linie aus dem Wissens- und Kulturbereich des Religiösen speist. Andere wiederum verbinden mit Vergebung stark Geschichten aus der Populärkultur, stellen Querbezüge zu so Celebrities her und dem Vergeben oder eben Nicht-Vergeben von Seitensprüngen."

    Das Verständnis von Vergebung hat sich gewandelt. Doch wie und warum – das sei in den Sozialwissenschaften bislang "erstaunlich unterbelichtet", resümiert Christian von Scheve. Zwar untersuchen diese gesellschaftliche Konflikte und die Wiederherstellung von Kooperation. Dabei konzentrieren sie sich aber auf Rache und Vergeltung und damit auf das Gegenteil von Vergebung.

    Mit 34 ausführlichen Interviews und der Auswertung einer großen Haushaltsumfrage wollen die Wissenschaftler nun Licht ins Dunkel bringen. Wann haben Sie das letzte Mal vergeben, fragten sie zum Beispiel. Um welche Verletzung oder welchen Fehltritt ging es? Warum haben Sie vergeben? Aber auch: Wann wurde Ihnen das letzte Mal vergeben?

    "Zum Beispiel habe ich nicht den besten Draht zu meinem Vater. Und ich hab's jetzt auf jeden Fall für mich erstmal so akzeptiert und werde ihn wahrscheinlich auch in naher Zukunft noch mal aufsuchen und ihm dann einfach sagen, dass ich ihn so akzeptiere, wie er ist. Und ich denke, da gibt es vielleicht dann die Möglichkeit – also ich muss ihm ja nicht vergeben, aber vielleicht mir selbst vergeben, dass ich ihm gegenüber eben dieses Gefühl entwickelt habe."
    Wie Jens Burkhart - unter verändertem Namen – so erzählen auch viele für die Studie interviewten Frauen und Männer von alten Familienkonflikten. Von Betrug in der Partnerschaft ist die Rede oder gar von psychischem und körperlichem Missbrauch. Es geht um schwer wiegende Vorfälle - nicht darum, dass jemand sich häufig verspätet oder lange nicht gemeldet hat. Christian von Scheve und die Soziologin Sonja Fücker von der FU:

    "Es sind ganz oft solche nicht justiziable Vergehen wie zum Beispiel die Lüge, ein gebrochenes Versprechen, eine nicht gut ausgefüllte soziale Beziehung, etwa im Sinne von Eltern-und-Kinder-Beziehung – all solche Sachen, wo man nicht die Polizei rufen kann und sagen kann: So, jetzt muss der oder die mal bestraft werden. Sondern es sind Sachen, die sich im informellen Bereich bewegen, aber als sehr, sehr schwerwiegend empfunden werden: enttäuschtes Vertrauen. Belogen zu werden. Betrogen zu werden, all solche Geschichten."

    "Oder halt auch bei Nicht-Vergebung in der Familie, dass große Differenzen oder Konflikte da herrschen, wo darüber nachgedacht wird, ob man das vergeben kann oder nicht."

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    In Vergeben steckt die Bedeutung von: austeilen, verschenken, verzeihen. Wie sind die Rollen verteilt? Wer gibt mehr? Derjenige, der um Entschuldigung bittet oder derjenige, der vergibt? Es handelt sich um eine hierarchische Beziehung, ist Christian von Scheve überzeugt. Wer vergibt, verzichtet auf Rache und Vergeltung. Die Verzeihung erfolgt aus einer moralisch überlegeneren Position:

    "Ich bin nämlich derjenige, der dir vergeben kann. Also: Du bist fremd gegangen, und das vergebe ich dir jetzt. Und ich gehe jetzt nicht irgendwie aus Rache und Vergeltung selber noch mal fremd, damit du mal siehst, wie das ist. Sondern ich verzichte darauf. Das ist eben die Gabe der Vergebung."

    Doch kommt man den Menschen in Interviews auf die Schliche, warum und ob sie tatsächlich vergeben? Wer behauptet gerne von sich, nachtragend zu sein?

    Deshalb versuchten die am Projekt beteiligten Psychologen, in einem Experiment zu messen, wie Menschen unmittelbar auf eine Transgression, eine Grenzverletzung, reagieren. Die Psychologin und Psychiaterin Angela Merkl von der Berliner Charité:

    "Welche Emotionen werden eigentlich bei dem Prozess des Vergebens verarbeitet oder was für Emotionen spielen eine große Rolle' Vor allem der Ärger, der entsteht, wenn Sie so eine Transgression erfahren. Und deswegen haben wir uns ein ganz gutes Experiment ausgedacht, das sehr gut diese zum einen emotionalen Prozesse aber auch kognitive Prozesse untersucht und haben das erstmal an gesunden Probanden durchgeführt."

    Im Labor spielte die Testperson gegen einen vermeintlichen Gegner, in Wirklichkeit ein Computer. Sie sollte auf einen Ton so schnell wie möglich reagieren. Wer die Runde gewann, konnte den anderen mit einem Geräusch bestrafen.

    Und dafür die Lautstärke wählen.

    Park: "Diese Stufe wird vor jeder Runde eingestellt. Der Ablauf ist immer: Ich stelle ein: Was möchte ich dem Gegner für einen Ton senden, wenn ich gewinne? Dann spiele ich die Runde, gewinne oder gewinne nicht. Gewinne ich, darf ich diesen Ton rüberschicken. Wenn ich nicht gewonnen habe, also sprich verloren habe, bekomme ich selber einen Ton vom Gegner."

    Der Ton provoziert und bestraft zugleich. Die Psychologin Mona Park wollte wissen, wie die Situation die individuelle Bereitschaft zu verzeihen beeinflusst. Welche Tonstärke wählt der Spieler für die kommende Runde, wenn er unmittelbar zuvor selber bestraft wurde' Für welchen Pegel dagegen entscheidet er sich, wenn er gerade gewonnen hat' Es zeigte sich, dass wer verloren hatte und bestraft wurde, aggressiver reagierte.

    Doch auch die Bereitschaft zu verzeihen wurde gemessen. Wie erwartet, verzichteten eher jene auf laute Straf-Töne, die leichter verzeihen können. Überraschende Ergebnisse dagegen fanden die Psychologen, als sie das Experiment verschärften. Dafür machten die Testpersonen mentale Übungen, die ihre Selbstkontrolle ermüdeten. Ausgerechnet die sogenannten Hochvergeber verhielten sich in der darauf folgenden Spielsituation vergleichsweise aggressiv. Für Mona Park lassen sich diese Erkenntnisse in Therapien oder bei Gruppenkonflikten anwenden.

    Park: "Dass man nicht sagen kann: Die Situation muss stimmen. Oder die Person muss ausgeruht und nicht gestresst sein. Oder die Person muss irgendwie trainiert sein, dass sie ein höherer Vergeber wird oder so. Sondern diverse Faktoren spielen zusammen oder sind verknotet in dem Prozess der Vergebung."

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    Die Soziologen bezweifeln, ob dieser Versuch im Labor den vielen Facetten von Vergebung gerecht wird. Ihre Datenanalyse zeigte, dass Männer stärker dazu neigen, Fehlverhalten zu verzeihen als Frauen – ein Ergebnis, das sie weit mehr überraschte, als jenes, dass ältere Menschen nachsichtiger sind als junge. Eine Erklärung dafür steht noch aus.

    Was Menschen letztlich dazu motiviert, den Eltern, einem Freund oder dem eigenen Kind zu verzeihen, widerspricht ebenfalls den Erwartungen. Vergebung, erzählt Sonja Fücker, ist nicht zwingend daran gebunden, dass der andere sich entschuldigt oder Reue bekundet. Die Aussöhnung könne sogar ohne Gespräch, in einer Art innerem Dialog, stattfinden.

    Zentral ist jedoch, wie beide Seiten ihr Verhalten nach der entscheidenden Tat interpretieren: Wie benimmt sich derjenige, der verletzt hat? Und wie reagiert der andere darauf? Eine zum Teil wortlose Interaktion:

    "Es wird nicht, wie wir das vielleicht häufig erwarten, zwischen Menschen so ganz konkret gesagt: Ich vergebe Dir jetzt das und das. Oder: Ich muss das jetzt mit dir hier besprechen. (...) Sondern das wird durch viele Gesten, Symboliken vermittelt, wie: Man lädt den anderen mal wieder zum Essen ein. Oder wenn es natürlich um schwer wiegendere Dinge geht, dann spielt Zeit eine große Rolle, in der man sich dann durch andere Gesten wieder annähert."

    Vergebung kann Jahrzehnte dauern. So erzählte ein Interviewpartner von seinem früher gewalttätigen Vater, dem er erst mit großem zeitlichen Abstand, im Erwachsenenalter, habe verzeihen können. Sonja Fücker:

    "Und zwar kann man sagen, dass die Fähigkeit zu vergeben mit diesem Verstehen von einer Situation verbunden ist. Das heißt, insofern ich nachvollziehen kann, warum jemand so gehandelt hat, warum er mich so verletzend behandelt hat, ist auch meine Fähigkeit gegeben zu vergeben."

    Das Vergeben besteht aus zwei Komponenten: der rationalen und der emotionalen. In vielen Fällen lassen sich die Gründe nachvollziehen, warum der andere sich "daneben" benommen hat. Das hilft, den Ärger und die Empörung zu überwinden und wieder zu spüren, wie viel der andere einem wert ist.

    Allerdings bedeutet Verständnis nicht zwangsläufig die Bereitschaft, dem anderen zu vergeben. Wiegen doch manchmal die moralischen Prinzipien schwerer:

    Sonja Fücker: "Wenn ich also beispielsweise sage: Ich verstehe zwar, warum du so gehandelt hast. Aber trotzdem finde ich dein Verhalten einfach unhaltbar. Ich find das nicht richtig und entscheide dann in der Kombination dieser beiden Komponenten, ob ich vergebe oder nicht."

    Jan: "Man kann vergeben, aber man sollte nicht vergessen. Ohne dass es jetzt noch mal hoch kommt. Wenn man dann vergeben hat, dann ist die Sache auch abgeschlossen. Das ist ein Konflikt, der in unserer Familie schon sehr lange existiert: dieses Nachtragend-Sein. Und es hat unsere Familie glaube ich auch über Generationen geprägt. Ich habe mich da ein bisschen von befreit und leb damit auch (…) unbeschwerter."