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Verhältnis Vater-Mutter-Kind

Eltern sind manchmal spießig, sympathisch, chaotisch. Sie verfolgen unterschiedliche Erziehungsziele. Aus der Sicht ihrer Kinder beschreiben das verschiedene Autoren in ihren Romanen.

Von Ina Nefzer | 29.09.2012
    Eltern sind Eltern. Man kann mit ihnen Glück oder auch ziemliches Pech haben. Aussuchen kann man sie sich jedenfalls nicht. Und: Man muss eine ganze Kindheit lang mit ihnen klarkommen. Das sind im Normalfall 18 Jahre, eine lange Zeit.

    Früher hatten Kinder bei ihren Eltern wenig bis gar nichts zu melden. Erst die Romantik brachte den Schonraum 'Kindheit' hervor und im bürgerlichen Milieu eine Mutter, die sich ganz der Erziehung widmet, um dem Nachwuchs eine kindgerechte Kinderstube zu bieten und ihn zu funktionierenden Mitgliedern der Gesellschaft heranzubilden. Bis zum Ende der 1960er-Jahre ging das so und prägt bis heute die Elterngeneration, die damals aufwuchs.

    Das Blatt wendete sich erst mit den Hippies, die ihren Kindern zutrauten, dass sie selbst am besten wüssten, was gut für sie sei. Dies gab den Eltern die Freiheit, sich vor allem um sich selbst zu kümmern. Auch viele dieser Kinder, die so frei aufwuchsen, sind heute Eltern. Die momentane Elterngeneration ist also mit unterschiedlichen, ja geradezu konträren Erziehungsmodellen aufgewachsen und steht derzeit vor der großen Herausforderung, Berufstätigkeit und Familienleben unter einem Hut zu bekommen.

    In aktuellen Kinderromanen, die nicht von problematischen, sondern von ganz normalen, von intakten Familien handeln, ist das Treiben der Sprösslinge natürlich Hauptthema. Aber auch die Eltern spielen im Grundschulalter noch eine so große Rolle, dass man von 'Familiengeschichten' sprechen kann. Interessant wird es, wenn zudem die Perspektive der Kinder gewählt wird, um das Geschehen und die handelnden Personen zu schildern.

    Wie – so fragt man sich einerseits - sehen darin eigentlich die Kinder ihre Eltern und welche Rolle spielen sie für sie heute? Und zweitens: Welche eigenen Kindheitserfahrungen, welche Ideale, welche Intentionen verarbeiten die Autoren wohl in der Darstellung ihrer Elternfiguren?

    "Ich glaube, dass das Schöne an meiner Kindheit vor allem meine Eltern waren, meine fantastischen Eltern, die mit sehr viel Verständnis auch meine Kindheit mitgeformt haben. Und natürlich, da war der Wald, da war das Hühnerhaus. Es gab Schafe, Hunde, es gab Buntspechte, aber das Eigentliche an dieser Zeit war, dass ich diese wunderbare Phase mit meinen Eltern hatte."

    Es ist die schwedische Kinderbuchautorin Frida Nilsson, Jahrgang 1979, die hier so begeistert von ihrem Elternhaus spricht. Die 33-Jährige ist mit ihren noch wenigen Kinderbüchern schon gehörig aufgefallen: als Erfinderin skurriler Tiercharaktere und ihrer unsentimentalen Art, warmherzig zu erzählen. In Schweden hat die Autorin nun eine vierteilige Miniserie veröffentlicht über das Mädchen Hedvig. Könnte sie, zumindest im ersten Band "Hedvig! Das erste Schuljahr", der gerade auf Deutsch erschienen ist, genauso gut Frida heißen?

    "Das könnte ich sehr wohl sagen. Natürlich habe ich bei einigen wenigen Stellen auch mal ein bisschen bestimmte Situationen zugespitzt, um das ganze Buch spannender zu machen. Aber das ist richtig: Das Meiste am ersten Buch ist wirklich autobiografisch."

    Impulsiv und vergnüglich wirkt die 33-jährige Autorin im Gespräch, ähnlich wie ihre siebenjährige Buchheldin, die – Zitat - "so laut lachen muss, dass fast das Dach wegfliegt", die "vor Glück fast explodiert" und sich "im Kopf frisch, wie eine Gurke" fühlt. Doch als rauskommt, dass sie es war, die eine Klassenkameradin stundenlang im Schuppen eingesperrt hat, weiß Hedvig "ganz sicher, dass ihr Leben zu Ende ist. Jetzt kann sie genauso gut ins Hühnerhaus ziehen und auf der Stange sitzen bleiben, bis sie stirbt".

    "Ich erinnere mich sehr gut an meine eigene Kindheit. Auch die Erinnerung daran, wie schnell es wechseln konnte zwischen Hoch und Tief, Dunkel und Licht, zwischen Weinen und Lachen."

    Frida Nilsson fängt ihre kindliche Erlebnis- und Gefühlswelt mit herrlich drastischen Bildern ein und zeichnet die kleine Frida in Hedvig mit entwaffnender Ehrlichkeit, trockenem Humor und natürlich großer Empathie.

    Denn leicht ist deren Kinderleben keineswegs: Hedvig und Frida werden zwar – Zitat – "im Paradies groß", doch das liegt ziemlich abseits: "Nicht einmal am Ende der Welt, sondern dahinter". Hedvigs Eltern sind beide berufstätig. Das Familienleben gestalten sie weitgehend nach ihren Bedürfnissen und Wünschen und so haben sie als Lebensmittelpunkt der Familie einen Ort ausgesucht, wo kein anderes Kind in der Nähe wohnt:

    "Papa tischlert eine grüne Wippe für Hedvig. Die ist hübsch, der einzige Hacken daran ist nur, dass Hedvig niemanden hat, mit dem sie darauf wippen kann. Sie wohnt immer noch Nachbar mit niemand. Und Linda wohnt zehn Kilometer weit weg. Nie haben Mama oder Papa Zeit, Hedvig dorthin zu fahren. Die Wippe steht auf der Wiese und die Farbe blättert ab. Nur für Papas Truthahn ist sie so verlockend, dass er aus dem Schuppen hervorgeschossen kommt, um sich darauf niederzulassen. Und schwupps ist der Fuchs da und frisst ihn auf!"

    Dass ihr Vater etwas für Hedvig baut, ist eine liebevolle Geste, aber er scheint gar nicht zu realisieren, dass dies Hedvig traurig vor Augen führt, wie sehr ihr Kinderfreunde fehlen. Auch ihre Mutter zeigt nicht mehr Einfühlungsvermögen, als sie Hedvig – nach einem schwedischen Brauch - als Osterhexe verkleidet losschickt, um mit sage und schreib 20 selbst gemalten Bildern bei den Nachbarn um Süßigkeiten zu bitten. Die einzige Ausbeute ist – wie zu erwarten – ein trockener Keks von Baggerführer Alf.

    "Hedvigs Unterlippe fängt an zu zittern. Schrottnachbarn. Schrottstraße. Mit feuchten Augen rennt Hedvig den ganzen Weg nach Hause. Denen zeig ich's, denkt sie. Ihr ganzer Kopf kocht vor Rachegelüsten. Sie holt ihre Filzstifte, macht die Zimmertür hinter sich zu und faltet die Briefe auf. Dann fängt Hedvig an, Pimmel zu malen. Den Hähnen, Hühnern, Küken und Hasen. Manche bekommen Brüste, lange, krakelige Hängebrüste. FROHE OSTERN, schreibt sie. Sie stopft die Briefe in ihre Tasche und macht sich erneut auf den Weg."

    Frida Nilsson lässt Hedvig deren Frust ungehemmt und auf sehr amüsante Weise ausleben. Ihre Botschaft: Hedvig kommt klar, indem sie auf ihre Weise das Beste aus dem macht, was ihre Eltern vorgeben. Entsprechend sieht die Autorin die Tatsache, dass sie selbst als Einzelkind am Ende der Welt so viel alleine war, keinesfalls kritisch:

    "Ich glaube auch nicht, dass es ein großes Problem ist, allein zu sein – als Kind zumindest nicht. Man macht seine eigenen Sachen, man erfindet eigene Dinge, man spielt mit sich selbst."

    Fazit: Elternfreie, unbeaufsichtigte Zeit und Natur sind – das hat schon Astrid Lindgren eindrucksvoll gezeigt - Glücksfaktoren für eine schöne Kindheit. Aber nur dann, wenn Eltern zugleich für ein geborgenes Zuhause sorgen. Das alles gelingt den berufstätigen und damit modernen Bucheltern genau wie deren Vorbild. Kein Wunder schwärmt Frida Nilsson eingangs so von ihrer Kindheit.

    Die nächste Kinderserie spielt im Schweden von heute und wieder sind die Eltern voll berufstätig. Der Autor, Mikael Engström, hat bislang mit Romanen über sozial gefährdete Jugendliche wie "Brando" oder "Ihr kriegt mich nicht" beeindruckt. Sein Faible für Milieustudien zeigt sich auch hier, in "Ida, Paul und die fiesen Riesen aus der Dritten" und "Ida, Paul und die Dödeldetektive", so die Titel der ersten zwei Bände.
    Erzählt wird von Ida und von Paul, die - beide sechsjährig - beste Freunde sind und mit ihren Familien in der Stadt wohnen. Paul findet es peinlich, wenn seine Mutter zur Einschulung "ein kunterbuntes Kleid mit Fransen und Federn" trägt, "wie eine Indianerin". Und Pauls Vater hat Zöpfe, "einen rosa Anzug an und eine gelbe Krawatte dazu".

    Dieser von Paul genau beschriebene, alternative Kleidungsstil, der an die Hippie-Ära erinnert, gibt jedoch schon den signifikanten Hinweis auf das Erziehungsprogramm seiner Eltern, wie die folgende Hörspiel-Szene zeigt:

    Ida: Hilfe!
    Paul: Was ist los?
    Ida: Rosa Schuhe. Das überlebst du nicht.
    Paul: Warum?
    Ida: Darum.
    Paul: Warum darum?
    Ida: Diese Schuhe kannst du nicht anhaben. Das sind Mädchenschuhe.
    Paul: Warum?
    Ida: Darum.
    Paul: Darum ist keine Antwort.
    Ida: Haben deine beknackten Eltern sich das ausgedacht?
    Paul: Die sind nicht beknackter als deine.
    Ida: Doch. Deine Eltern sind echt oberbeknackt.
    Paul: Beknackt oder oberbeknackt, jedenfalls haben sie mir einen Geheimauftrag gegeben. Der ist so geheim, dass ich ihn selbst nicht kapiere.
    Ida: Und wie lautet der Auftrag?
    Paul: Ich soll die gängigen Normen verrücken.
    Ida: Die gängigen was?
    Paul: Nor-men.
    Ida: Und was soll das sein?
    Paul: Keine Ahnung.


    Wie in Pauls Familie die "gängigen Normen verrückt" – sprich: die traditionellen Geschlechterrollen aberzogen werden sollen -, zeigt Engström zahlreich in Episoden wie dieser sehr humorvoll nach immer demselben erzählerischen Muster: Er lässt die elterlichen Originalzitate im Kindermund unverändert - quasi als Echo – widerhallen. Dadurch wird klar: Die Kinder kapieren nicht im geringsten, was die Erwachsenen meinen. Besonders komisch wird es dann, wenn Ida und Paul versuchen, das Gehörte zu interpretieren und dabei völlig falsch liegen. Die emanzipatorische elterliche Erziehung geht also ins Leere und ist nichts als eine große Belastung für das Kind, das mit den Folgen allein zurechtkommen muss.

    Paul: Ich hab Angst vor King und Kong.
    Ida: Das hätte ich auch, wenn ich in deinen Schuhen stecken würde.
    Paul: Dann muss ich eben sterben.

    Aber Ida hatte eine Idee.

    Ida: Hüpf in die Schlammpfütze! Paul hüpfte in den Schmodder, und die Schuhe wurden braun.


    Ganz klar hört hier der Spaß auf, denn Paul wird tatsächlich wegen der rosa Turnschuhe von Drittklässlern schlimm und brutal gemobbt! Letztlich aber schafft er es aus eigener Kraft, sich die Übeltäter vom Hals zu halten.
    So wie Pauls Eltern gegen Geschlechterklischees, haben Idas Eltern der traditionellen Rollenverteilung den Kampf angesagt. In dieser Familie, zu der noch Idas kleiner, hyperaktiver und deswegen ziemlich anstrengend Bruder Leonardo, genannt Zappel, gehört, ist nichts klar geregelt und stattdessen alles Verhandlungssache. Entsprechend mischen auch die Kinder mit, wenn ihre Eltern - bei jeder Gelegenheit und sogar an Idas erstem Schultag - über Aufgaben und Rollenverteilungen streiten:

    Zappel: Ich will die Schildkröte haben! Ich will! Ich will! Ich will!
    Ida: Nein, dann ist sie nämlich tot.
    Zappel: Ich will aber!
    Idas Mutter: Immer sollen alle nur nach deiner Pfeife tanzen.
    Idas Vater: Seit wann? Du bist doch diejenige, die immer alles bestimmen will.
    Idas Mutter: Weil sonst ja nichts läuft bei uns. Wer muss sich denn um alles kümmern, ums Haus, um die Kinder und zu allem Überfluss auch noch um dich – ich!
    Idas Vater: Das ist doch alles Quatsch! - Ich bin doch derjenige, der sich hier um alles kümmert.
    Idas Mutter: Das ist ja wohl die Höhe! Wer von uns beiden hat denn Beruf und Haushalt an der Backe?!
    Idas Vater: Weil eine Familie ja so was von anstrengend ist ...

    Ida fand ihre Eltern peinlich.


    Fazit: Engström macht sich in seiner Kinderserie ganz offensichtlich einen Spaß daraus, Varianten moderner Elterntypen lustvoll zu karikieren - und zu kritisieren: Dass Eltern heute hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt sind und deswegen schon das familiäre Alltagsleben sie total überfordert. Dass sie ohne Rücksicht auf Verluste den Stress ihres Erwachsenenlebens und ihre ideologischen Weltanschauungen an die Kinder weiter geben. Dass ein solches zuhause Kindern Freiheit, aber keine Geborgenheit gibt und die Kinder lernen müssen, alleine zurechtzukommen. Wie sie das schaffen und was alles in ihrem abenteuerlichen Kinderalltag geschieht, während die Erwachsenen gerade ihren eigenen Interessen nachgehen – das liest sich jedenfalls ebenso schonungslos wie amüsant. Einmalig!

    Klar ist: Wenn Mutter und Vater arbeiten gehen, müssen die Zuständigkeiten zuhause neu verhandelt werden. Manche Eltern können das besser, andere schlechter. Vorteil: Das moderne Familienmodell bietet mehr Flexibilität. Nachteil: Es ist aber auch deutlich komplizierter im Vergleich zur traditionellen Rollenverteilung. Wie es sich als Kind im althergebrachten Familienmodell lebt, erzählt eindrücklich eine sehr persönliche Erstlesegeschichte mit dem Titel "Hasenbrote", geschrieben von Antje Damm, die sich erst seit Kurzem auch als Autorin versucht:

    "Die Familie in den "Hasenbroten" hat sicher ganz traditionelle Strukturen, was einfach daran liegt, dass die Mutter halt zuhause ist, also den Haushalt schmeißt, und sich um Kinder kümmert, und der Vater arbeitet. Ich denke, dass unser Familienleben insgesamt vielleicht ein Tick entspannter war. Es hatte klare Strukturen, jeder hatte seinen Part. Das will ich auch gar nicht werten. Das finde ich auch gar nicht unbedingt gut. Ich möchte heute ja auch arbeiten als Mutter, aber es war wahrscheinlich wesentlich einfacher zu organisieren."

    Antje Damm schildert sehr glaubwürdig aus der kindlichen Perspektive der kleinen Antje eine besondere Begebenheit ihrer eigenen Kindheit in den frühen 1970er-Jahren: die Stunden vor dem Besuch des heiß geliebten Großvaters. Als dessen Mitbringsel wird ein nicht verzehrtes Vesper erwartet, sogenannte "Hasenbrote". Schon dieser, heute ungebräuchliche Begriff im Titel signalisiert den retrospektiven Blick der Erzählung.
    Jedes Mitglied der Familie verbringt diese Stunden auf charakteristische Weise anders. Die Mutter bringt ihren Haushalt auf Vordermann: putzt, wäscht, backt, kocht und dirigiert alle anderen herum. Der Vater zum Beispiel wird so lange wiederholt zum Einkaufen geschickt, bis er endlich alles richtig besorgt hat. Seine Kompetenzen liegen eben im beruflichen Bereich, zuhause hat seine Frau das Sagen. Aus kindlicher Perspektive wird das gestresste Verhalten der Erwachsenen für befremdlich und unlogisch befunden: Der Opa habe meist eh seine Brille verlegt, könne also den ganzen Dreck ohnehin nicht sehen. Die Mutter aber begegnet solchen Einwänden hartnäckig damit, dass der Besuch und ihre Putzerei gar nichts miteinander zu tun hätten.

    Umso mehr im normalen Familienalltagstrott ein entspanntes, gemeinsames Miteinander fehlt, desto höher sind die Erwartungen an den Großvater: Antje richtet in ihrem Zimmer Bücher, Fundstücke – einfach alles hin, was sie mit ihm besprechen, anschauen, erleben will. Für sie und ihre beiden Brüder erfüllt der Großvater offenbar die ihm traditionell zugedachte Rolle perfekt:

    "Klar, so ein Opa, der hat uneingeschränkte Zeit, der ist nur für einen da – also der macht ja nichts anderes, wenn er kommt. Und Großeltern sind eh klasse, weil sie einfach nicht mehr an ihren Enkeln rumerziehen, sondern einfach Spaß mit ihnen haben wollen."

    Mutter, Vater, Großvater – alle Erwachsenen wissen, welche Rollen sie einzunehmen haben und die Kinder auch. Das gibt Sicherheit! Doch was passiert eigentlich, wenn die heilige Ordnung in Gefahr gebracht wird - zum Beispiel durch Antjes kleinen Bruder?

    Alle wurden zum Essen gerufen, aber Fabi war plötzlich nicht mehr da. Er war spurlos verschwunden. Wir fingen an, ihn in der ganzen Wohnung zu suchen, und Mama wurde schon ganz hektisch. Da sah ich plötzlich, dass die Tür von meinem Kleiderschrank ein bisschen offen stand. Ich riss sie auf und sah meinen kleinen Bruder zwischen meinen schönen Kleidern hocken, eine Hand tief ins Nutellaglas gestopft, die andere war in seinem Mund verschwunden. Er schmatzte zufrieden. Wie ein braunes Monster sah er aus. Überall Nutella. Und meine Kleider waren auch alle braun. "Das sind mindestens fünf Waschmaschinenladungen!", stöhnte Mama und drückte Nutella-Fabi vor Freude an sich.

    Fazit: Nachsicht und Güte – in den "Hasenbroten" machen diese Eigenschaften die gestresste Mutter wieder sympathisch. Daneben sind klare, vorhersehbare Zuständigkeiten der Eltern in Verbindung mit Landleben und viel elternfreier Zeit auch in Antje Damms Kindheit – wie bei der eingangs vorgestellten schwedischen Autorin Frida Nilsson - Glücksfaktoren:

    "Meine Mutter hatte das Zepter in der Hand, würde ich sagen. Es gab klare Anweisungen, aber man konnte die umgehen und man hatte viele Freiheiten, sobald man das Haus verlassen hatte. Wir waren einfach sehr viel unbeaufsichtigt, einfach draußen. Also, man hat seine Kinderräume und seine Kinderträume und seine Kinderspiele. Und die werden da ausgelebt. Und um die geht's. Ich glaube, es ist auch die Zeit, unbeaufsichtigt zu sein. Das ist was, was ich glaube, dass Kinder heutzutage zu selten haben, auch Langeweile zu haben zum Beispiel. Ich glaube, nur daraus kann Kreativität entstehen."

    Ganz genaue Vorstellungen davon, was sein Sohn tun und können soll, hat der Vater des neunjährigen Antons in Salah Naouras neuem Kinderbuch "Dilip und der Urknall":

    Fußball ist wichtig, findet Papa. Er hat früher auch im Verein gespielt und war ein toller Stürmer. Nur eine Sache ist für ihn noch wichtiger als Fußball, und zwar Mathe. "Wer nicht gut Mathe kann, der bringt's nicht weit im Leben", sagt er immer. Papa war in Mathe natürlich hervorragend. Deswegen ist er auch so weit gekommen und wurde Bankmanager und hat genug Geld verdient, um sich ein Haus zu kaufen.

    Dass das mit Mathe geschummelt ist, erfährt Anton erst viel später und dann ist sowieso alles anders. Am Anfang strotzt sein Vater noch vor Selbstbewusstsein und schön ist er obendrein - zumindest in den Augen seiner Mutter. "O du mein Held mit den breiten Schultern und dem Wallehaar", sagt sie doch tatsächlich manchmal zu ihm. Doch dass sie nun 'nur noch' Hausfrau und Mutter ist, sorgt für Konfliktstoff:

    Früher war meine Mutter Apothekerin gewesen und trug einen weißen Kittel. Sie hat ihre Arbeit sehr geliebt, aber als ich auf die Welt kam, zog sie den weißen Kittel aus und blieb zuhause, um sich um mich zu kümmern. "Wegen dir hab ich damals meinen Beruf aufgegeben", sagt sie immer, wenn sie richtig wütend auf mich ist.
    "Ja, ich weiß schon", knurrte Papa. "Im Vergleich zu meinem gemütlichen Bürojob ist dein Haushalt die reinste Sklavenarbeit."
    "Wegen dir hab ich damals meinen Beruf aufgegeben", fauchte sie Papa an. Ich war echt überrascht. "Also bin ich gar nicht schuld?" fragte ich. Aber sie antwortete nicht.


    Der Tag, als Anton zweimal das falsche Tor trifft, bringt die erste Wende in Naouras Geschichte: Anton erklärte seinen Rücktritt vom Fußball und seine Eltern ihm, dass er ein Geschwister bekommen soll. Nach einigem Hin und Her adoptieren die Eltern einen zweiten Sohn, den gleichaltrigen, aus Indien stammenden Dilip.

    Um es gleich vorwegzunehmen, auch Dilip erfüllt nicht die väterlichen Erwartungen, offenbart aber - nachdem er endlich anfängt zu sprechen - andere, völlig ungeahnte Fähigkeiten und geht bald auf eine Hochbegabtenschule. Er versteht sich bestens mit Anton, der sehr fantasievoll Märchen weitererzählt und diese auf den alten Kassettenrekorder seines Opas spricht. Wie gut seine sprachlichen Fähigkeiten sind, legt Naoura dem Leser am Buchende dadurch nahe, dass er Anton als fiktiven Autor dieses köstlich pointierten Familienromans outet.
    Salah Naoura, seit Langem als herausragender Übersetzer bekannt, fällt seit Kurzem auch als Autor origineller Erstlese- und Kindergeschichten auf. Sein Kinderbuch "Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums" steht auf der Auswahlliste des diesjährigen Jugendliteraturpreises.

    Es fällt auf, wie gern Autor Naoura die Jungsperspektive für seine Geschichten wählt. In "Dilip und der Urknall" geht er weiter und setzt sie in Bezug zur väterlichen und großväterlichen. Es geht also generationsübergreifend um die männliche Sicht auf Familie: um die Veränderungen der Vaterrolle, um das Sohnsein als leibliches und als adoptiertes Kind, um gegenseitige Erwartungen und um die Vater-Sohn-Beziehungen, um Großväter und Enkel.

    Antons Vater, das dürfte klar geworden sein, ist anfangs ein richtiger Kotzbrocken: selbstverliebt, herrisch, anmaßend und humorlos. Er kommt weder mit seinen Söhnen, noch mit seinem Vater, Antons Großvater, gut zurecht und kann froh sein, eine so sympathische Familie zu haben. Denn die braucht er spätestens - am zweiten Wendepunkt der Geschichte, als er sich bei einem Jobwechsel finanziell und kräftemäßig verkalkuliert und mit der beruflichen Bauchlandung einen Burn-out erleidet. Dies ist jedoch die Voraussetzung dafür, dass ein Umdenken des Vaters einsetzt und die Mutter wieder den Apothekerkittel überzieht.

    Fazit: Naoura ist der einzige der hier vorgestellten Autoren, dessen Elternfiguren sich entwickeln und dadurch als Familie zusammenwachsen. Das verläuft in puncto Vaterfigur zwar nicht immer ganz glaubwürdig, Salah Naoura aber rettet sich durch einen erzählerischen Kniff: Er lässt am Buchende das tatsächliche Geschehen mit Antons Fantasie verschwimmen, wodurch dieser sich seinen Vater zum Beispiel folgendermaßen vorstellt:

    "Aa, aa, aa, aa, aa, aa, ...
    Ho, oh, oh, oh, oh, oh, ...
    Le jaa le jaa. Soniye le jaa le jaa ... ", singen die indischen Frauen.
    "Aa, aa, aa, aa, aa, aa, ...
    Ho, oh, oh, oh, oh, oh, ...


    Dann springt plötzlich Papa ganz nach vorne, reißt sich sein rotes Hemd vom Leib und tanzt los wie ein Verrückter! Seine Wallehaare wedeln, seine Schultern schlackern und seine Pluderhosenbeine wippen geschmeidig hin und her."

    Eltern sind Eltern, ob spießig oder ausgeflippt, nervig oder sympathisch. In allen vier Kinderromanen leben sie vornehmlich in ihrer Erwachsenenwelt und brauchen viel Zeit für sich selbst – ihren Beruf, ihre Beziehung, ihre Interessen, ihr Selbstverständnis. Ihre Kinder haben dadurch jede Menge Freiraum und müssen lernen, sich selbst zu helfen und – mehr oder weniger - alleine zurechtzukommen.

    Die Familienbilder der Autoren sind oft autobiografisch und dadurch auffallend authentisch, gern pointiert und manchmal ein wenig sentimental. Übereinstimmend und jeder auf seine Weise, zeichnen sie die Erwachsenenwelt und die Kinderwelt als zwei Galaxien, die nebeneinander existieren und manchmal entfernter, manchmal näher liegen.

    Verbinden kann sie nur die Liebe.

    Buchinfos:
    * Frida Nilsson/Anke Kuhl (Illu.): "Hedvig! Das erste Schuljahr". Aus dem Schwedischen von Friederike Buchinger, Gerstenberg 2012, 12,95 Euro
    - Der nächste Hedvig-Band erscheint im Frühjahr 2013. Die Dolmetscherin im Interview ist Grit Thunemann.

    * Mikael Engström/Melena Willis (Illu.): "Ida, Paul und die fiesen Riesen aus der Dritten (Bd.1)" und "Ida, Paul und die Dödeldetektive (Bd.2)". Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer, Hanser 2012, je 9,90 Euro.
    - Das Hörspiel "Ida, Paul und die fiesen Riesen aus der Dritten", Regie und Bearbeitung Mark Ginzler, kann man auf SWR2 in der Sendung "Spielraum" am 22.09.2012 um 16:05 Uhr hören. Auch vom zweiten Band ist ein SWR-Hörspiel geplant.

    * Antje Damm: "Hasenbrote". Moritz 2012, 9,95 Euro.

    * Salah Naoura/Dorota Wünsch (Illu.): "Dilip und der Urknall und was danach bei uns geschah". Dressler 2012, 12,95 Euro.
    - Salah Naoura: "Dilip und der Urknall". Gekürzte Autorenlesung, Oetinger Audio 2012, 13,95 Euro