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Verkehrs- und Stadtplanung
Kein Platz für Kinder

Die Menschen ziehen in die Städte - und das geht auf Kosten der Spielflächen für Kinder und Jugendliche. Berliner Zahlen zeigen einen Rückgang um ein Viertel in unter 20 Jahren. Bauherren drücken sich vor der Schaffung von Spielplätzen. Spielstraßen wären eine Lösung - doch dazu müssen die Autos weichen.

Von Anja Nehls | 05.09.2019
Kinder spielen auf Berlins erster temporären Spielstraße, in der Kreuzberger Böckhstraße, zwischen Graefe- und Grimmstraße.
"Kommunen haben neue Konzepte entwickelt, weg von reinen Spielplätzen, hin zu Mehrgenerationenplätzen“ sagt Ursula Krickl vom Deutschen Städte- und Gemeindebund (dpa/Jörg Carstensen)
Mitten auf der Straße liefern sich ein paar Dreijährige ein Bobbycar-Rennen. Drei Mädchen haben einen Slalomparcours für Fahrräder aufgebaut. Autos fahren an diesem Mittwochnachmittag nicht durch die Böckhstraße im Berliner Bezirk Kreuzberg. Jede Woche einmal ist diese Straße von 14 bis 18 Uhr keine Autostraße, sondern eine temporäre Spielstraße. Nora, Lucie und Paula, zwischen sechs und acht Jahren alt, sind begeistert:
"Ich finde das eigentlich toll, dass man halt hier auch, weil es eigentlich eine Straße ist, einfach hier rumlaufen kann. Man kann hier mit den Verkehrshütchen spielen, mit kleinen Fahrzeugen spielen und mit Kreide malen. Und da vorne machen die auch immer was mit Schnüren. Man kann hier mit vielen Geräten rumfahren, ohne dass die Autos einen stören."
Anwohner müssen dafür sein
Die Böckhstraße ist die erste funktionierende temporäre Spielstraße in Berlin. In Pankow war ein Projekt an den Anwohnern gescheitert - hier haben die Nachbarn nichts dagegen. Der Besitzer eines stehengebliebenen Wagens entschuldigt sich bei den Kindern: Sein Mitbewohner sei versehentlich mit dem Autoschlüssel verreist. Kein Problem, niemand holt den Abschleppwagen. Stefan Gelbhaar, Bundestagsabgeordneter für die Grünen, hat die Sache unterstützt:
"Kinder brauchen nicht immer viel, aber Platz brauchen sie halt schon. Wenn wir jetzt auf dem Dorf wären, da wäre temporäre Spielstraße wahrscheinlich nicht so sinnvoll, oder wenn ein großer, schöner Spielplatz gleich nebenan wäre. Aber hier ist es halt so, hier sind Kinderläden und Kitas direkt nebendran, hier in Kreuzberg ist es ein bisschen enger, und das ist genau die Möglichkeit, dann den Raum anders zu nutzen."
Weil Spielflächen für Kinder immer knapper werden, besonders in Innenstädten. Berlin zum Beispiel wächst, es werden mehr Kinder geboren - aber die Spielfläche für Kinder nimmt seit vielen Jahren kontinuierlich ab. 0,8 Quadratmeter pro Einwohner gab es im Jahr 2000, inzwischen sind es nur noch 0,6 Quadratmeter.
Dabei schreibt das Berliner Spielplatzgesetz von 1979, ein deutsches Unikum, eigentlich einen Quadratmeter pro Einwohner vor. Eingehalten wird es allerdings nicht, beklagt Claudia Neumann vom Deutschen Kinderhilfswerk:
"Und natürlich brauchen wir dieses Draußenspielen, weil Kinder, die draußen spielen, die sich richtig austoben können, die Flächen haben, um zu toben, auch zufällige Begegnungen draußen haben mit anderen Kindern, sich natürlich ganz anders entwickeln, als Kinder, die nur im Zimmer sitzen. Also wir haben auch einen starken Bewegungsmangel in Deutschland bei den Kindern, und da müssen wir einfach den Rahmen schaffen, und dazu gehört natürlich die Stadt- und die Verkehrsplanung."
Barcelona schafft Spielflächen in den Straßen
Die Konkurrenz um Flächen ist in den Städten besonders groß. Aussagekräftige Vergleichszahlen gibt es nicht. Die 3,5-Millionen-Stadt Berlin hat 1.840 Spielplätze, der dicht besiedelte Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hat 170 davon. Die zuständigen Grünflächenämter haben Probleme mit Vandalismus, Müll und neuerdings auch mit dem Klimawandel, weil Holzspielgeräte viel häufiger von Pilzen befallen werden.
Wenn es für Kinder nicht mal Schulen oder Kitas gebe, müsse ein neuer Spielplatz eben hinten anstehen, bedauert der grüne Kreuzberger Bezirksstadtrat Florian Schmidt. Raum zu Spielen könne nur gewonnen werden, wenn man ihn anderen Nutzern wegnehme, z.B. den Autos:
"Es gibt natürlich auch die Möglichkeit, dass man dann ganze Abschnitte einer Straße als Spielplatz darstellt. So eine Art Pocket-Spielplatz. Das haben wir in anderen Städten viel mehr. In Barcelona zum Beispiel gibt es ganz viele Kleinstspielplätze, die sehr gut auch abgesichert sind - aber die eben in den Straßen sind, nicht in der Baulücke oder im Park oder auf einem großen Platz."
Bauherren nutzen Ausnahmeregelungen
Bei Neubauprojekten auf Flächen, die dem Land gehören, will der Bezirksstadtrat künftig auf öffentliche Spielflächen achten. Ursula Krickl vom Deutschen Städte- und Gemeindebund will auch private Bauherren in die Pflicht nehmen. Fast in jeder Kommune gebe es Regeln, nach denen bei neu gebauten Wohnungen auch Spielplätze in bestimmtem Maß mitgeplant werden sollen. In Berlin müssen bei Projekten mit mehr als sechs Wohnungen je Wohneinheit vier Quadratmeter Spielfläche geschaffen werden:
"Also seit einiger Zeit beobachten wir auch mit Sorge, dass insbesondere auch private Bauträger von Mehrfamilienhäusern ihre Pflicht zum Spielplatzbau nicht mehr in dem ausreichenden Maße nachkommen - was den Druck auf die verbleibenden öffentlichen Spielräume zusätzlich erhöht."
Es gibt für Bauherren jede Menge Ausnahmeregelungen. Besser als neue Spielplätze seien sowieso spieltaugliche städtische Bereiche, meint Claudia Neumann vom Deutschen Kinderhilfswerk:
"Spielen soll ja nicht nur auf Spielplätzen stattfinden. Also von daher wäre unser Ideal ein ganzes Netz von verschiedenen Räumen, die die Kinder und Jugendlichen nutzen können. Spielplätze, naturnahe Außenräume, Straßen, Gehwege, Plätze, Wäldchen, am Bachlauf, der Kletterbaum - all das soll zum Spielen einladen."
"Auch alte Leute gehören auf die Straße"
Kinder und Jugendliche müssten eine Rolle in der Stadt- und Verkehrsplanung spielen, meint der Kreuzberger Bezirksstadtrat Florian Schmidt. Die Flächen seien einfach ungerecht zugunsten der Autos verteilt. Mit mehr Personal könnten auch Schulhöfe nachmittags zum Spielen geöffnet werden. Ursula Krickl vom Deutschen Städte- und Gemeindebund:
"Gerade in Wohngebieten, wo vor 20 Jahren junge Familien eingezogen sind, sind die Kinder heute vielfach aus dem Haus, und bestehende Spielplätze verwaisen. Viele Kommunen haben deshalb bereits heute neue Konzepte entwickelt, weg von reinen Spielplätzen, hin zu Mehrgenerationenplätzen, auf denen alle Familien, gerade auch Ältere, dann gerne Zeit verbringen."
So wie in der Kreuzberger Böckhstraße. An diesem Spielstraßen-Mittwoch ist Helga Hartmann extra mit ihrem Rollstuhl auf die Straße gekommen:
"Weil ich finde, dass alte Leute und Omas und Kinder auf die Straße gehören. Die alten Leute, weil sie so was vom Leben haben, und Kinder halten uns jung, und deswegen finde ich das obercool."