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Verlauf von COVID-19
Warum erkranken manche heftiger, andere kaum?

Die einen bemerken kaum, dass sie infiziert sind - andere müssen auf der Intensivstation beatmet werden: COVID-19 verläuft sehr unterschiedlich. Die Gründe dafür beginnen Forscher gerade erst zu verstehen. Viel hängt offenbar von der körperlichen Verfassung und den Lebensumständen der Betroffenen ab.

Von Volkart Wildermuth | 29.04.2020
Das Foto zeigt eine Wohnungstür, an der ein Schild "Vorsicht. Häusliche Quarantäne" hängt.
Eine Erkrankung an COVID-19 kann sehr unterschiedlich verlaufen. Menschen mit leichten Symptomen müssen häufig nur 14 Tage in häuslicher Quarantäne bleiben, ein Krankenhausaufenthalt ist nicht nötig. (Imago/ KS-Images)
COVID-19 ist eine Krankheit mit vielen Gesichtern. Während die meisten Viren recht klare Symptome auslösen, kann eine Infektion mit SARS-CoV-2 den Körper auf sehr vielfältige Weise schädigen. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) verlaufen rund 80 Prozent der Erkrankungen mild bis moderat, das heißt mit höchstens einer leichten Lungenentzündung. Bei 20 Prozent kommt es zu einer klinischen Verschlechterung mit schwerer Lungenentzündung, Atemnot und erniedrigter Sauerstoffsättigung im Blut. Erkenntnisse zur Zeit zwischen ersten Symptomen und schwereren Verläufen bis hin zur Aufnahme ins Krankenhaus hat das RKI in seinem COVID-19-Steckbrief zusammengetragen.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Wovon hängt es ab, ob jemand nur milde Symptome hat oder mit einer schweren Lungenentzündung auf der Intensivstation beatmet werden muss? Harte Daten gibt es dazu noch nicht, aber begründete Vermutungen. Demnach gibt es drei Faktoren für den Verlauf einer COVID-19-Erkrankung.

1. Das Virus – Dosis und Varianten

Der Virologe Christan Drosten hat schon vor Wochen gesagt, dass es vermutlich einen Unterschied macht, wie viel Virus man abbekommt und ob es gleich tief in die Lunge gelangt oder sich erst langsam vom Rachen aus sozusagen vorarbeiten muss. Es gibt Versuche mit Frettchen, die zeigen, dass ein enger Kontakt entscheidend ist und dass Tiere, die nur ein paar Virenpartikel über die Luft abbekommen haben, zwar durchaus den Erreger in sich tragen können, aber eben nicht erkranken. Am Anfang der Epidemie in Deutschland sind Mitarbeiter der Firma Webasto in Bayern erkrankt, die längere Zeit mit einer infizierten Person in einem Seminarraum zusammengearbeitet haben. Taxifahrer oder Hotelangestellte, die nur kurz Kontakt zu der Person hatten, sind nicht erkrankt. Die Dosis macht das Gift - das scheint auch bei COVID-19 zu stimmen. Welche die virulente Dosis ist, ist allerdings noch unklar. Darüber könnte beispielsweise die sogenannte Heinsbergstudie Aufschluss geben, die Infektionsketten genau nachverfolgen will. Dann wird man sehen, wie eng der Kontakt sein muss, damit es zu einer Übertragung kommt.
Zusätzlich gibt es Unterschiede bei den Viren. Sie mutieren, verändern sich. Nicht so schnell wie etwa Grippeviren, aber doch messbar. Erste Berichte über verschiedene aggressive Varianten waren wohl übertrieben. Aber gerade ist eine Studie erschienen, die verschiedene Varianten von SARS-CoV-2 im Labor auf menschliche Zellkulturen gegeben hat. Alle konnten sich vermehren, aber manche deutlich schneller und effektiver als andere. Die aggressiveren Varianten konnten die Zellen auch schneller töten. Also kommt es wohl nicht nur darauf an, wieviel Virus man abbekommt, sondern auch auf die genaue genetische Version von SARS-CoV-2.
Illustration neuartiger Corona-Viren
Was wir über die Gefährlichkeit der Virus-Varianten wissen
Laut einer chinesischen Studie gibt es eine eher harmlose Variante des Erregers SARS-CoV-2 und eine gefährlichere. Virologen kritisieren diese Schlussfolgerung. Die Daten können auch die vielen Todesfälle in Italien nicht erklären.

2. Gene des Menschen – Eintrittspforten und Immunsystem

Erst einmal ist da die Eintrittspforte des Virus: ein Eiweiß namens ACE 2, das auf der Oberfläche von Lungenzellen und nebenbei auch von vielen anderen Zellen sitzt und dem Virus als Rezeptor dient. Es gibt Varianten, aber noch hat niemand herausgefunden, ob die einen Einfluss auf COVID-19 haben. Entscheidender ist die Menge von ACE 2. Tatsächlich ist es so, dass alte Menschen sehr viel weniger ACE 2 bilden. Das klingt erst mal nach einer guten Nachricht - weniger Eintrittspforten für das Virus, weniger Infektionen. Doch ACE 2 hat wichtige Aufgaben - darunter auch, die Immunreaktion zu kontrollieren. Hier kann es zum Problem werden, wenn wenig ACE 2 vorhanden ist. Denn bei vielen Menschen, die an COVID-19 sterben, stellt am Ende nicht das Virus selbst das Problem dar, sondern eine aus dem Ruder laufende Abwehrreaktion, die das eigene Gewebe besonders in der Lunge zerstört. Eine These, die aktuell verfolgt wird besagt deshalb: Alte Menschen bilden weniger ACE 2 und stecken sich deshalb vielleicht nicht so einfach an. Aber wenn das Virus sie erwischt, sind die Folgen schlimmer.
Das Sterberisiko ist für ältere Menschen besonders hoch, doch es sterben durchaus auch jüngere an COVID-19. Eine Erklärung dafür ist ein unterschiedlich aufgestelltes Immunsystem. Bei den Abwehrgenen gibt es eine besonders große Vielfalt, die jeweils unterschiedliche Krankheitserreger besonders gut erkennen können. Das heißt, jedes individuelle Immunsystem hat Stärken und Schwächen. Die verschiedenen Immun-Gene können auch SARS-CoV-2 unterschiedlich gut erkennen – das legt eine Studie nahe, die im "Journal for Virology" veröffentlicht wurde. Die Autoren schlagen sogar vor, Menschen mit einem an dieser Stelle schlecht aufgestellten Immunsystem bevorzugt zu impfen. Dafür sind die Daten aber noch zu dünn.
Abwehrzellen des Immunsystems
Warum das Immunsystem gefährlich werden kann
Das Immunsystem schützt unseren Organismus vor unbekannten Erregern. Es kann sich aber auch gegen unseren eigenen Körper richten und bei schwerkranken COVID-19-Patienten die Lunge schädigen - mit lebensbedrohlichen Folgen.
Der wichtigste genetische Faktor ist nebenbei das Y-Chromosom: Männer erkranken schwerer als Frauen. Es sieht so aus, als ob Östrogen selbst ein Schutz-Faktor sein könnte, weil es die Abwehrreaktion günstig beeinflusst. In New York wird schon untersucht, ob das weibliche Hormon Männern bei einer COVID-19-Erkrankug helfen kann.
Was auffällt: COVID-19 ist nicht nur eine Krankheit der Lunge, das Virus sorgt auch in den Blutgefäßen für Probleme. Jüngere Patienten entwickeln Thrombosen, sogar Schlaganfälle. Hier könnte eine bestehende Neigung zu Problemen bei der Blutgerinnung ein wichtiger Faktor sein.
Darstellung des Gehirns und der Faseroptik, die Daten um das Gehirn herum überträgt
Coronavirus greift möglicherweise auch Nerven und Gehirn an
Die Symptome von COVID-19 sind vielfältig. Inzwischen mehren sich Hinweise, dass das neue Coronavirus auch Nervenzellen angreift. Dabei geht es nicht nur um Riech- und Geschmacksstörungen.

3. Alltag des Menschen - Vorerkrankungen und Lebensumstände

Da das Virus offenbar auch die Blutgefäße angreift, scheinen bestehende Herz-Kreislaufleiden besonders problematisch zu sein. Auch Diabetes kann die Abwehrkräfte dämpfen und ist daher ein Risikofaktor. Wobei sich die Ärzte hier einig sind, dass es kaum ein erhöhtes Risiko gibt, wenn diese Grundkrankheiten gut eingestellt sind. In Deutschland gibt es einen breiten Zugang zu Diabetestherapien, zu Blutdrucksenkern und so weiter. Das könnte mit ein Grund für die vergleichsweise seltenen wirklich schweren Verläufe sein.
Eine Pflegekraft misst den Blutdruck eines Patienten. Von beiden sind nur die Hände und Arme zu sehen.
"Ein gut eingestellter Blutdruck hilft dem Körper gegen das Virus"
Möglicherweise erhöhen blutdrucksenkende Medikamente das Risiko einer COVID-19-Erkrankung. Mediziner raten dennoch davon ab, Medikamente abzusetzen: Ein unkontrollierter Blutdruck parallel zu einer Virusinfektion sei riskanter.
In den USA sind besonders Afroamerikaner stark betroffen, die besonders häufig unter Herz-Kreislauf-Problemen, Übergewicht und der Zuckerkrankheit leiden. Hier spielt auch der Faktor Armut eine Rolle. Soziale Faktoren sind wichtig für den Verlauf vieler Krankheiten, das gilt auch für COVID-19. Auch Raucher kommen mit COVID-19 schlechter zurecht, wohl weil ihre Lunge vorgeschädigt ist. Vorläufige Daten deuten zudem darauf hin, dass die Luftverschmutzung eine Rolle spielt. Die ersten Hotspots der Coronavirus-Ausbreitung, Wuhan in China und Norditalien, sind beides Industriestandorte.
Ein Obdachloser bekommt in Berlin eine Suppe
Wie Armut und Gesundheit zusammenhängen
Menschen mit geringer Bildung, niedrigem Einkommen und Berufsstatus unterliegen laut RKI einem zwei- bis dreifach erhöhten Risiko, an Diabetes oder Krebs zu erkranken, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu bekommen.