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Verlorene Erinnerungen

Eine wohlbehütete Kindheit unter der Pinochetdiktatur - im Rückblick weiß der Erzähler in Alejando Zambras Roman nicht mehr, wie er über seine Erinnerungen denken soll. Gewissheiten verschwinden und Altbekanntes erscheint völlig unbekannt.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 28.10.2013
    Wie über eine scheinbar wohlbehütete Kindheit schreiben, die in die Anfangsjahre der Militärdiktatur von Augusto Pinochet fällt? Das hat sich der Ich-Erzähler des schmalen Romans gefragt. Er ist Anfang dreißig und versucht, nach einer in die Brüche gegangenen Liebesbeziehung über sich und seine Kindheit zu schreiben. Aufgewachsen ist er in einer Familie von Mitläufern, die die Gräuel der Militärdiktatur nicht wahrhaben wollte. Im Gegensatz zu den Romanen der 1970er Jahre, die überwiegend von Flucht und Exil handelten und den Widerstand gegen die Diktatur dokumentierten, schreibt Alejandro Zambra über die urbane Mittelschicht.

    "Ich wollte diese Welt darstellen, die nicht die einer Minderheit, sondern die der Mehrheit war. Menschen, die Angst hatten und die sich auf ihre Art mit der Diktatur arrangierten. Die sich jedoch später zu dieser Erfahrung bekannten und sie hinterfragten. Damals versuchten sie, zu überleben und nicht aufzufallen. Darüber wollte ich schreiben. Selbstverständlich stehe ich bei diesem Rückblick der Linken jener Jahre sehr nah, in deren Romanen ich mich ideologisch wieder gefunden habe. Doch wenn ich versuche, Worte für meine eigene Erfahrung in jenen Jahren zu finden, muss ich keinen Herkunftsort importieren, da ich über eine Welt schreibe, die mir vertraut ist und in der ich aufgewachsen bin: die der Mittelklasse, die am Stadtrand von Santiago lebte, die schweigend und angespannt mitbekam, was sich in Chile abspielte."

    In dieser Kindheit, die der Erzähler in knappen, einprägsamen Bildern evoziert, wird der normale Alltag im properen Elternhaus nur durch zwei Ereignisse erschüttert: das Erdbeben im März 1985 und die Freundschaft zu Claudia. Um ihr zu imponieren, ist er bereit, dem Nachbarn hinterher zu spionieren, einem gewissen Rául, bis dieser Junggeselle eines Tages überstürzt wegzieht, fast zur gleichen Zeit wie Claudia. Soviel zur Kindheit, deren unterschwellige Erschütterungen sich peu à peu offenbaren, und zwar in dem Maß, wie der Erzähler das Spannungsfeld von Erinnern und Verdrängen auslotet. Das ermöglicht dem Erzähler eine andere Sicht auf seine Familie, die er im Vergleich zu denen seiner Mitschüler wie folgt beschreibt:

    "Ich stammte als Einziger von allen aus einer Familie ohne Tote, und diese Feststellung war seltsam bitter für mich: Meine Freunde waren mit Büchern aufgewachsen, die ihre toten Eltern oder Geschwister hinterlassen hatten, doch in meiner Familie hatte es weder Tote noch Bücher gegeben."

    "Es geht mir um das Erbe. Es gibt eine Literatur der Eltern und eine der Kinder.
    Die ging davon aus, dass sie die Literatur der Eltern nur nachzumachen oder
    fortzusetzen bräuchte. Ja, sie waren für oder gegen die Diktatur gewesen, hatten
    unter ihr gelitten oder hatten sie herbeigeführt. Wir waren nur die Kinder, die
    in irgendeiner Ecke saßen und das Ganze zu verstehen suchten oder einfach nur
    ein paar Zeichnungen anfertigten. Wir sind lange Zeit davon ausgegangen, dass
    die Erfahrung der Diktatur nur sie etwas anginge, und dass wir dafür keine Worte
    hätten. (…) Heute würde man das gern neu formulieren."

    Und diesen Versuch der Neuformulierung, diese schwierige Gratwanderung
    zwischen verhärteten Fronten, die sich quer durch die Familien ziehen, unternimmt der Erzähler mit Claudia. Die von einem auf den anderen Tag verschwundene Freundin war seinerzeit nach Kanada ausgewandert und ist nun nach Jahrzehnten im Ausland zur Beerdigung ihres Vaters nach Chile gereist. Auch, um endlich reinen Tisch zu machen und selbstbewusst zu ihrer Geschichte und der ihrer Familie zu stehen. Die hatte sich nicht mit der Diktatur abgefunden, sondern sie mit allen Mitteln zu bekämpfen versucht. Sie hatte sogar einen Identitätswechsel in Kauf genommen und jener Raúl, dem der Erzähler als unbedarfter Junge nachspionierte, war nicht Claudias Onkel, sondern ihr Vater. An all das kann sich der Erzähler nunmehr gemeinsam mit Claudia erinnern und somit auf individueller Ebene zur behutsamen Annäherung zwischen Exilanten und Mitläufern beitragen. Die Beiden besuchen sogar die Eltern des Erzählers, wobei er sich der nicht zu überbrückenden Distanz zu ihnen bewusst wird und ihm klar wird, dass er sich von Grund auf neu erfinden muss.

    "Das hängt mit dem Alter zusammen, wenn man dreißig wird und versucht, die Erfahrung der Eltern zu formulieren. Ich habe mich beim Schreiben immer wieder gefragt, wie ich mich verhalten hätte, wenn ich an der Stelle meines Vaters gewesen wäre. Das ist keine rhetorische, sondern eine ehrliche Frage. Wäre ich mutiger oder feiger gewesen? Hätte ich Kinder gehabt? Das hängt auch mit dem zusammen, wie meine Generation mit dem umgeht, was früher selbstverständlich war. Wir fragen uns heute, ob wir Kinder wollen oder nicht, ob wir heterosexuell sind oder nicht. (…) Gemessen am Modell der traditionellen Familie ist meine Generation die der Brüche jedweder Art. In den letzten dreißig Jahren hat sich im privaten Bereich viel verändert. (…) Meiner Ansicht nach zeigt die Literatur die Komplexität der menschlichen Beziehungen auf, es geht nicht darum, sie zu vereinfachen."

    Alejandro Zambra hat mit "Die Erfindung der Kindheit" einen leisen und lesenswerten Roman über den Erinnerungs- und Schreibprozess eines Erzählers vorgelegt, der darüber einen neuen Zugang zu sich findet und zur Gesellschaft, in der er aufgewachsen ist. Und das geht nicht ohne Erschütterungen und den Verlust von Gewissheiten.

    Alejandro Zambra: Die Erfindung der Kindheit
    Suhrkamp Verlag, Berlin, 2012; Übersetzung aus dem Spanischen: Susanne Lange, Preis: 18.95 EURO