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Vernichtendes Urteil

Wo steht das Südafrika 16 Jahre nach der Wahl Nelson Mandelas zum Staatspräsidenten? Dieser Frage gehen die Autoren Jens Erik Armbacher und Romin Khan in einem Sammelband nach und kommen zu einem ernüchternden Schluss.

Von Armin Hering | 28.06.2010
    Ein smogverpestetes Viertel in Soweto am Rande von Johannesburg. Das ist die Kulisse des südafrikanischen Films Tsotsi. Eine düstere Version des Post-Apartheid-Südafrikas, durch das die dumpfen Bässe des Kwaito dröhnen, der südafrikanischen Variante des Rap. Tsotsi zeichnet Soweto als Ort winziger Wellblechhütten am Rande staubiger Straßen. Wo Jugendliche rauben und morden, wo Frauen an Wasserhähnen Schlange stehen und obdachlose Kinder in Betonröhren hausen. Ein Teil von Johannesburg, den die Weißen ängstlich meiden.

    Und die Kluft wächst weiter in Südafrikas Wirtschaftsmetropole, wie Patrick Bond in seinem Aufsatz zeigt. Bond ist Professor für politische Ökonomie, der früher die Regierung des Afrikanischen Nationalkongresses ANC beraten hat, heute jedoch zu ihren schärfsten Kritikern gehört.

    Inzwischen verstecken sich vermögende Vorort-BewohnerInnen hinter drei Meter hohen, mit Stacheldraht gekrönten Mauern, um die Tsotsis außen vorzuhalten. Teure Car-Tracking-Systeme identifizieren No-Go-Areas im Herzen der Finsternis wie beispielsweise das Alexandra Township. Die Slums erstrecken sich bis zum Horizont und beherbergen die Mehrheit der zehn Millionen EinwohnerInnen der Provinz Gauteng. Aufgrund einer katastrophalen Politik sind die neuen Wohngebiete sogar schlechter mit Schulen und Krankenhäusern versorgt als die Ghettos der Apartheid. Die neuen Häuser, Hundehütten genannt, sind im Allgemeinen halb so groß wie die alten 40-Quadratmeter-Matchbox-Wellblechhütten der Apartheid-Ära. De facto hat eine Klassenapartheid das gesetzlich verankerte System der rassistischen Apartheid ersetzt und tatsächlich in vielen Fällen verschärft.
    Bond ist nicht der einzige Autor dieses schonungslosen Buches, der ein vernichtendes Urteil über die Politik der ANC-Regierung fällt. Das ganze Werk ist eine Anklageschrift gegen die neuen Herrscher am Kap und ihre neoliberalen Glaubenssätze, die ihr immer wieder angelastet werden. Tatsächlich hat Südafrika auch 16 Jahre nach dem Ende des weißen Minderheitsregimes noch immer einen Spitzenplatz unter den Ländern, deren Einkommensverteilung die höchste Ungleichheit aufweist.

    Unbestreitbar ist auch, dass Nelson Mandela und mehr noch sein Nachfolger Thabo Mbeki, in ihrer Wirtschaftspolitik vor allem auf das Vertrauen internationaler Investoren gesetzt haben und auf die Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit Südafrikas im globalen Wettbewerb. Erst Wachstum, dann Umverteilung, das ist die Devise der Wirtschaftspolitik. Mit der Folge, dass die meisten Schwarzen heute noch immer arm sind, und die meisten Reichen weiß - sieht man einmal ab von der kleinen schwarzen Oberschicht, die dem regierenden ANC nahe steht. Der ANC sei eben keine linke Kraft, die beständig für die Interessen der Armen kämpft, schreibt der Sozialforscher Dale McKinley, der mehrere Jahre für Südafrikas mitregierende kommunistische Partei tätig war, ehe er wegen seiner scharfen Kritik am Privatisierungskurs der Regierung ausgeschlossen wurde.

    Der ANC ist seit Beginn der Transformation eine Organisation, die sich der Stärkung der wachsenden heimischen Bourgeoisie, sowie den Interessen des nationalen und internationalen Kapitals verschrieben hat. Von seiner historisch weit zurückreichenden Affinität zu radikaleren, basisdemokratischen Demokratiekonzepten hat er sich abgewendet.
    Umso mehr erstaunt, dass der ANC bei den Parlamentswahlen vor einem Jahr eine erneute Zweidrittelmehrheit nur knapp verfehlt hat. Offenbar hat Nelson Mandelas früherer Mithäftling Neville Alexander recht, wenn er schreibt, dass die meisten Schwarzen immer noch glauben, die Regierung würde ihre Erwartungen erfüllen, sobald etwas mehr Zeit vergangen sei und die wirtschaftlichen Bedingungen besser.

    Die Tatsache, dass bis jetzt keine glaubhafte Alternative am linken Ende des politischen Spektrums aufgetaucht ist, treibt wahrscheinlich noch mehr Menschen in ein Stadium der politischen Apathie. Wenn der ANC nicht seine ökonomische, soziale und kulturelle Ausrichtung überdenkt, könnte er schnell ebenso festungsartig sein wie die Regierung von Präsident Mugabe in Simbabwe.
    Die Euphorie des Machtwechsels ist schon lange der Ernüchterung gewichen. Von einer Revolte der Gehorsamen sprechen die Herausgeber. Von einer wachsenden Militanz in der Gesellschaft, die sich zwar nicht gegen die Befreiungsbewegung und ihren Staatsapparat wendet, die aber häufig zu zivilem Ungehorsam führt. Beispielhaft dafür ist die wachsende Zahl von Menschen, die sich in den Slums widersetzen und illegal Strom und Wasser abzapfen gemäß dem weitverbreiteten Graffiti-Slogan: Zerstört die Zähler und genießt das Wasser.

    Unterstützt werden die aufmüpfigen dabei von einer wachsenden Zahl lokaler Selbsthilfegruppen und Netzwerke. Eines der erfolgreichsten ist Treatment Action Campaign, TAC, eine Organisation von Aids-Aktivisten, die sich seit über zehn Jahren immer wieder mit der Pharmaindustrie aber auch mit Südafrikas Regierung erfolgreich angelegt hat. Südafrika zählt zu den Ländern mit der höchsten Quote von HIV-Positiven. In manchen Provinzen sind 30 Prozent aller jungen Frauen mit dem Virus infiziert. Wenig überraschend in einem Land, in dem nach Schätzungen der Polizei jeden Tag 150 Frauen und Mädchen vergewaltigt werden. Und in dem selbst der heutige Präsident Jacob Zuma wegen Vergewaltigung vor Gericht stand. Während des Prozesses beschrieb er, dass er duschen würde, um eine HIV-Infektion zu verhindern.

    Dennoch hat es TAC nach den Worten einer früheren Aktivistin geschafft, der Regierung die moralische Lufthoheit zu entreißen. Sie hat es geschafft, weil sie von Tür zu Tür gezogen ist und Menschen dazu gebracht hat, ihre Stimme zu erheben. Eine Erfahrung, die auch Zackie Achmat gemacht hat, der heute 48 Jahre alte Gründer der TAC.

    Ich habe bei TAC Dinge erlebt, die ich in keiner politischen Organisation erlebt habe. Dass sich eine schwarze Frau vom Land zu einer Aktivistin verwandelt, die den damaligen Weltbankpräsidenten Paul Wolfowitz in Bedrängnis bringt bei der Frage, was die Weltbank gegen Aids unternimmt. Solche Erlebnisse lassen mich darauf hoffen, dass es in ein oder zwei Jahrzehnten möglich sein könnte, soziale Bewegungen aufzubauen, die die Verhältnisse umwälzen können.
    Eine fast schon vorrevolutionäre Lage, könnte man vermuten. Das Südafrika, das hier beschrieben wird, hat wenig mit dem Land gemeinsam, das der Besucher der Fußballweltmeisterschaft aus seinen Reiseführern kennt oder das er während eines zweiwöchigen Aufenthaltes kennenlernt mit all den folkloristischen Bildern mit wilden Tieren und Zuluritualen. Von der viel beschworenen Regenbogennation ist in diesem Buch nichts zu sehen. Die Abbildungen sind grau, die Fakten hart. Ein Buch, das den Leser auf eine eher beschwerliche Reise mitnimmt in ein Südafrika, von dem die meisten vermutlich glauben, dass es nach dem Ende der Apartheid längst untergegangen sei.

    Südafrika – Die Grenzen der Befreiung. Das Buch ist in der Assoziation A erschienen. 263 Seiten kosten 16 Euro, ISBN: 978-3-935936-60-6.