Donnerstag, 25. April 2024

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Verrat. Die Welt hat sich gedreht.

Ulrich Schacht überrascht in seinen neuen Erzählungen durch eine beharrliche Unruhe, die sich in den meist kürzeren und mitunter längeren Prosa-Texten verbreitet. Sie prägt die eher stillen Geschichten und verleiht ihnen eine Spannung, die das Buch zu mehr als einer zufälligen Sammlung macht.

Lutz Rathenow | 25.01.2002
    Da bewegt sich ein Mann namens Kander Richtung Süden. Mit dem Zug:

    Die Häuser der Ortschaften, denen die Bahnlinie näher kam, zeigten verstärkt Fachwerkmuster. Eine Postkarte nach der anderen, dachte Kander, ohne das ihn ein unangenehmes Gefühl bei diesem Gedanken beschlich, eher war ihm ein wenig behaglich zumute... Kander war wieder einmal unterwegs.

    Auch Schubart denkt in einer anderen Geschichte über freiwillige und aufgenötigte Bewegungen nach.

    Er liebt Züge, wenn sie nur lange genug fahren und nicht bloß am Tag. Gespräche gibt es in ihnen, die nichts mit dem Ziel zu tun haben. Man liest, einer erzählt seine Geschichte, der du entronnen bist, um die eigene zu erfahren.

    Das Wort "entronnen" trübt den plaudernden Ton, das fragile Einvernehmen mit sich und der Gegenwart. Und plötzlich fahrt ein vereister Zug aus dem östlichen deutschen Staat durch Schubarts Gegenwart. Wenige Menschen sitzen darin. Dieser Zug als Botschaft aus Schubarts Vergangenheit, die in dem Staat DDR wurzelt. Rasch versucht er sich von ihr freizukaufen, in dem er eine Illustrierte erwirbt. Er lacht über ein Cartoon lachen, der ihm gelungen scheint, und keiner merkt, dass er weint.

    Hier ist einer fremd durch seine Geschichte, die für Außenstehende nicht wirklich nachvollziehbar sein kann. Außer, Kunst macht sie nacherlebbar. Und es gibt immer noch die Natur als Trost, kein neues, aber ein in "Björns Inseln" eindrücklich gestaltetes Motiv. Ein Text über das Meer und das Leben der Menschen mit den Ewigkeiten einer Natur, die sich dort nicht wie in den großen Städten vor ihren Bewohnern verstecken kann. Ulrich Schacht sucht erzählerisch die Punkte, an denen Trost und Beschreibung von Trostlosigkeit zueinander finden. Verschiedene Zeitebenen kommen ins Spiel. Die einer Kindheit in Norddeutschland und eben auch in der DDR . Dann der Heranwachsende, der im Gefängnis landet. Das Leben später in jenen Teil Deutschlands, den wir uns alte Bundesrepublik zu nennen angewöhnt haben. Und die Zeit nach der Vereinigung. Seitdem ist Gegenwart. Sie prägt alle Geschichten und ermöglicht einige erst. Zum Beispiel die von Questin in der Titelgeschichte "Verrat. Die Welt hat sich gedreht."

    Kein glücklicher Titel des Buches, weil es Erwartungen an eine politische Deutlichkeit weckt, die den Erzähler Schacht nicht interessieren. In dieser längsten Geschichte des Bandes sucht Questin einen ehemaligen Hauptmann der Staatssicherheit auf. Der ihn vor Jahrzehnten in der U-Haft verhörte und die Ermittlungen leitete. Er hat sich damals nicht nur als Feind verhalten. Oder unterliegt der Besucher einer Täuschung? Kein Text, in dem der eine über den anderen triumphiert, es scheint zwar einen Sieger und einen Besiegten zu geben. Aber der Schein kann trügen, die Welt dreht sich permanent weiter. Die Karussellfahrt als heimliche Dramaturgie dieses gelungenen Bandes? Wahrnehmungsvergewisserung als kürzeste Formel die neuen Geschichten von Ulrich Schacht auf einen Begriff zu bringen. Schacht verwandelt Vergangenheit in ein Stück Gegenwart. Und verändert durch heutige Blickwinkel und Erfahrungszusätze eben auch diese Vergangenheit.