Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Verratene Liebe – Falsche Götter

Terrorismus gab es schon immer, weil unsere Zivilisation ihn fördert. Er entsteht aus dem Hass auf das Eigene, weil unsere Kultur uns dazu bringt, unsere Menschlichkeit als Schwäche zu erleben und sie deshalb, in einem individuell unterschiedlichen Ausmaß, zu verwerfen.

Christoph Burgmer | 22.09.2003
    Für den Schweitzer Psychoanalytiker und Buchautor Arno Gruen ist der Terrorismus nur mittelbar die Folge kulturpolitischer Ideologien, wirtschaftlicher Ausbeutungsverhältnisse oder militanter Organisationen. Er vertritt dagegen die Ansicht, dass Terrorismus eine Folge misslungener Persönlichkeitswerdung ist, in der Liebe, Emanzipation und Solidarität während der Kindheit nicht erlernt werden konnten. Wodurch und welche Auswirkungen dies hat, führt er dem Leser in seinen Büchern "Der Kampf um die Demokratie" und "Verratene Liebe - Falsche Götter" vor. Darin fokussiert der Autor die Erziehung als Entstehungsmoment gesellschaftlich-autoritärer Strukturen und ihre permanente Erneuerung nicht zufällig.

    Denn, so Arno Gruen, die autoritären Strukturen der Gesellschaft reproduzieren sich in der Kindererziehung und erzeugen so jene selbst und andere vernichtende Gewaltbereitschaft, die den terroristischen Anschlägen zugrunde liegt:

    Viele Kinder erkennen die Autorität, aber das meint nicht, dass sie sich dagegen auflehnen. Im Gegenteil: Viele Kinder identifizieren sich mit der Autorität weil sie Angst haben. Das ist leider eines der Probleme, so könnte man sagen, des Mensch Seins, dass, wenn wir in Gesellschaften aufwachsen, wo Gehorsam so wichtig ist, denn das ist ja eine Art, in der Autoritäten sich weiterpflanzen, man schon ganz früh durch die Angst und durch den Terror lernt, dass man sich gerade mit denjenigen identifiziert, die einen einigen, dass heißt man tritt ihnen bei, man einverleibt sie. Wenn das passiert, dann gibt man weiter, was einem angetan wird. Dass sind genau die Kinder, die dann andere peinigen, runtermachen müssen. Man könnte sagen, dass es sich in diesem Sinne vererbt. Ich meine es nicht im genetischen Sinn. Aber im psychologischen Sinn vererben sich diese Strukturen und Kinder, später Erwachsene, können gar nicht austreten. Das sind die Menschen, erst Kinder, dann Erwachsene, die dauernd dran sind, autoritäre Strukturen wieder herzustellen. Sie können mit Freiheit gar nicht leben. Das sind nicht nur die Menschen die andere runter machen, sondern auch die, die sich wohl fühlen, wenn es darum geht, in den Krieg zu gehen, Krieg zu machen, andere zu unterdrücken.

    Arno Gruen beschreibt Gewalt und Unterwerfung als abhängig von vorhandenen autoritären Strukturen in der Gesellschaft. Um so massiver die Pflicht zum Gehorsam, desto größer die potentielle Anzahl der Individuen, die Gewalt als Kompensation defizitärer Erziehung ausagieren müssen. Indem Grün die Entstehung von Gewalt in der Gesellschaft selbst, dort in der Erziehung lokalisiert, verwirft er die Vorstellung, Terrorismus wäre das Ergebnis fehlgeleiteter Verrückter. Zurecht widerspricht er auch denjenigen, die im Terrorismus eine kulturspezifisch islamische Erscheinung sehen:

    Ich denke, es passiert nicht nur in islamischen, sondern in allen Gesellschaften, dass wir Menschen haben, die durch diese autoritäre Gehorsamkeit, Erziehung, kein eigenes Selbst entwickeln können. Da ist kein Zentrum. Ihre Identität basiert dann auf der Identifikationen mit autoritären Figuren. Denn diese Menschen sind im Grunde identitätslos, leer. Solche Menschen müssen, um sich stark zu fühlen, einer Ideologie beitreten. Und Heldentaten ausführen, wodurch sie für einen Moment wenigstens fühlen, dass sie ausgefüllt sind, das sie ein Mensch sind. Natürlich trägt dazu die Armut bei, besonders in der Dritten Welt, auch die Demütigungen, der diese Menschen ausgesetzt sind. Wenn wir wirklich was gegen den Terrorismus tun möchten, da müssen wir dort ansetzen. Menschen müssen ein würdevolles Leben für sich aufbauen können. Diese zwei Dinge, die Bush überhaupt nicht unterstützt, sind die wahren Antworten auf das Problem des Terrorismus. Ob es islamischer, jüdischer, palästinensischer ist, ob in Tschetschenien, Sri Lanka oder wo auch immer. Wir haben es jedes Mal mit einem Nährboden zu tun, der auf Armut, auf Entwürdigung, darauf, dass Menschen keinen Sinn haben, gründet. Der Terrorismus gibt den Menschen für einen Moment das Gefühl, das sie jemand sind.

    Die Gesellschaft selbst als Verursacher von Gewalt und Terrorismus? Eine provozierende These, wenn auch nicht neu. Von Siegmund Freud bis Erich Fromm haben Psychologen immer wieder auf diesen Zusammenhang hingewiesen. In der Gegenwart belegen neue wissenschaftliche Hirnforschungen, dass diese Thesen nicht aus der Luft gegriffen sind. Die Entwicklung bestimmter rezeptiver Teile des Gehirns sind nachweisbar an soziale Bedingungen gebunden. Gruen berücksichtigt jedoch fast ausschließlich entwicklungspsychologische Forschungsergebnisse. Sie verdeutlichen vor allem, warum militante politische Organisationen die Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen bevorzugen und sie in so genannten Ausbildungslagern als Folterer und Terroristen heranziehen können. Doch Gruens Thesen rühren auch am demokratischen Selbstverständnis des Westens. In diesen Passagen verwebt er geschickt Psychoanalyse und Gesellschaftsanalyse zu einer scharfsinnigen Kulturkritik:

    Die Bürokraten sind das Fußvolk. Sie tragen die Regeln aus, dass man das Menschliche, das Autonome, dauernd begrenzt, verkleinert und vielleicht zerdrückt. Die Psychopaten sind Menschen, die aber nur menschlich aussehen. Was sie wirklich sind, ist ganz was anderes. Sie missbrachen das Rollenspiel von Güte zum Beispiel. Es sind diejenigen, die dauernd Feindbilder produzieren, denn davon leben sie, das sie den Hass produzieren. Deshalb sprach ich von der Zusammenarbeit von Psychopaten und Bürokraten. Das sind die Führer der Antimenschlichkeit. Und im politischen Leben sind es diejenigen, die wissen, wie den Hass zu mobilisieren, den Menschen ja haben, weil sie sich selbst hassen. Und sie geben dann solchen Menschen die Genehmigung, diesen Hass nach außen zu projizieren, gegenüber dem Fremden, oder dem der anders aussieht, dem Schwarzen, dem Chinesen, dem Juden, wem auch immer.

    Autoritäre Gesellschaften legitimieren solche Handlungen. Dies ist besonders dann der Fall, wenn politische und ökonomische Eliten an die Macht gelangen, die selbst Opfer einer autoritären Erziehung wurden. Durch das Mittel der Propaganda und gezielte Fehlinformationen stilisieren sie sich medienwirksam zu heldenhaften Leitfiguren. Dies kritisiert Gruen, denn so werden moderne Autoritätsstrukturen in die Gesellschaft eingezogen, die das Scheitern demokratischer Erziehungsziele wahrscheinlicher machen. Damit steht die Demokratie selbst zur Disposition:

    Indem Profit zum neuen Gott gemacht wird, wirtschaftlicher Erfolg der neue Gott ist und Wachstum der neue Gott ist, passieren diese Dinge. Man muss immer weiter wachsen. Das führt zum Untergang. Deswegen denke ich, in dem sich die Politik zum Handlanger der wirtschaftlichen Mächte gemacht hat, ist sie kein Gegengewicht zu dem, was diese Menschen tun wollen. Aber Menschen im Sinne von ihrer Erziehung, ihrer Identifikation mit Autoritäten, sind nicht in der Lage, sich zu wehren. Sie machen mit. Es ist genau, wie Proust einmal sagte: Wie haben wir den Mut, in einer Welt zu leben, in der wir versuchen, unsere Schmerzen, das heißt unsere Verletzungen, von denen gemildert zu haben, die uns die Schmerzen und Verletzungen beibrachten.

    Dies nachzuvollziehen ist für den Leser zuweilen ein halsbrecherischer Hochseilakt. Man droht seinen Halt im sozialpsychologischen Kulturpessimismus des Autors zu verlieren. Doch Gruen wäre kein guter Psychoanalytiker, würde er den Patienten ohne Hoffnung auf Heilung entlassen.

    Nicht alle Menschen fallen da rein. Wir reden über Gesellschaften. Ich denke vom Statistischen her, und ich beschreibe das in meinen Büchern, das ungefähr ein Drittel der Menschen bei uns autoritäre Kindheiten erleben. Das meint Kindheiten, wo Liebe gar nicht so wichtig ist. Im Gegenteil. Wahre Liebe wird unterdrückt, Zärtlichkeit wird unterdrückt, und diese Menschen, vom Statistischen her, zeigen sich dann als autoritär, als Menschen, die dauernd Feinde haben müssen, um sich aufrecht gehend als Menschen zu erleben. Dann gibt es ein Drittel, die weniger sind und dann gibt es ein Drittel, die sehr viel menschliche Zuwendung und Liebe schon als Kind erlebt haben. Die sind anders. Das Problem ist, dass diejenigen, die von Autorität so tief geformt sind, sind auch diejenigen, die am meisten Propaganda für sich machen. Deswegen denken wir immer, die wieder spiegeln die Mehrheit.

    Arno Grüns Forderungen danach, die wahren Bedürfnisse des Menschen anzuerkennen und in einer emanzipatorischen Pädagogik umzusetzen, mag angesichts fortdauernder Gewalt, Krieg und Terrorismus etwas emphatisch klingen. Doch rezipiert der Autor damit die wichtigste historische Erfahrung des 20. Jahrhunderts, nämlich dass wahre Demokratie nur dann existieren kann, wenn sie individuell erlernbar und als Handlung praktizierbar ist. Die antiautoritäre Erziehung von Kindern ist dafür nach wie vor der entscheidende Zugang. Die Bücher Arno Grüns ermutigen dazu, sich darauf einzulassen.